Kategorie: Rezensionen (Seite 7 von 12)

[rezension] HEUTE GRABEN | Mario Schlembach

Alles beginnt und endet bei A. Jeder Gedanke, jede kleine Erzählung, jede Aufzeichnung im Notizbuch. Nur lässt sich Liebeskummer von der Seele schreiben? Mario Schlembach lässt sich in Form eines Tagesbuch auf diesen Versuch ein. Wer A. ist, erfährt man am Anfang nicht. Man ahnt: es muss die große Liebe sein. Man vermutet: Sie könnte auch gestorben sein. Es würde zum Beruf passen, den das literarische Ich ausübt: Totengräber. Er schaufelt Gräber für Hoffnungen genauso wie für Romanzen und wenn jemand im Dorf stirbt, dann natürlich auch. Ein bisschen wird am eigenen Grab geschaufelt: Das Ich trinkt viel, ernährt sich ungesund und bekommt zu allem Überdruss auch noch dieselbe Lungenkrankheit diagnostiziert wie Thomas Bernhard, natürlich nicht, ohne ironischerweise darauf hinzuweisen. Zwischen fünf Heften entwickelt sich die Tragik des Ichs: Mehrere Frauen, die getroffen und nie wieder gesehen werden, während Bild und Gedanke stets um A. kreisen. Das Ich sucht nach Sprache, dem Schreiben und der Leere in sich, die Selbstvergewisserung im Blick:

Schreiben? Ich spreche nicht darüber und wenn, dann nenne ich es Kritzeln oder Herumbasteln. Es fällt mir immer noch schwer, alles, was nicht mit körperlicher Verausgabung zu tun hat, als Arbeit zu sehen.

Während sich der Wunsch nach einem Schriftstellerdasein herauskristallisiert, sind es die Orte, die wesentlich sind, in denen sich das Ich bewegt: Friedhof, Behandlungsraum und Bett. Es ist eine Erzählung, ähnlich einer Männergrippe, die sich wehleidig und larmoyant zwischen gestorbenen Lieben und verstorbenen Hoffnungen dahin liest. Die akribische Darstellung des Krankheitsverlaufs komplementiert diesen Roman, ohne auf Poesie zu vergessen:

Es geht mir gar nicht anders – dich zu träumen ist mein Atmen.

Der dritte Roman nach Nebel und Dichtersgattin erweist sich als weiterer Beweis dafür, wie eng Schlembach mit dem Tod ist und sich damit tröstet, ihn als Freund zu haben. Auch wenn die Baggerschaufel mit mehr Selbstmitleid als Ironie gefüllt ist, so ertappt man sich dabei gelernt zu haben: Man kann mehrere Tode sterben und trotzdem ganz lebendig sein.

[Information] Mario Schlembach: Heute graben. Kremayr & Scheriau. 192 Seiten. 978-3-218-01295-9. 20 Euro.

Ein herzliches Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

[rezension] Atemhaut | Iris Blauensteiner

Tagschicht, Nachtschicht, die Maschinen rattern und greifen, dazwischen Menschen, die zig Pakete verpacken, im Lärm der Lagerhalle des Logistikunternehmens. Die Füße tun weh, Schnittwunden und Schwielen an den Händen sind nichts Unbekanntes; der Rücken schmerzt, er wird sich nicht mehr erholen. Es ist die Erzählung von vielen Menschen in der Logistik, hier ist es jene Edin, ein Twentysomething, der den Großteil seiner Lohnarbeitszeit noch vor sich hat.  Er arbeitet in einer Lagerhalle, sein besorgniserregender Gesundheitszustand lassen ihn immer langsamer arbeiten, obwohl er früher der Schnellste und Effizienteste gewesen ist. Edin ist eingepfercht in der Presse des kapitalistischen Maximums und wird ausgequetscht, bis eine Maschine ihn anhand ihrer Berechnungen aussortiert und er die Firma verlassen muss.

Was bist du ohne Arbeit wert?

fragt sich Edin, der von sich immer nur in „Du“-Form erzählt. Als seine Freundin Vanessa eine Beförderung zur Abteilungsleiterin erhält, stehen nicht nur die altgeglaubten Machtverhältnisse kopfüber, sondern auch das Beziehungsverhältnis. Edin fühlt sich nutzlos, und schämt sich. Er stellt fest:

Grenzen sind ein Ort der bewohnbar ist.

Jene Grenzen verschieben sich, Edin nimmt die Welt anders wahr, Vanessas Klang hallt in der Wohnung, es ist der fehlende Klang der Arbeitswelt, wie respektable Zukunftsaussichten, der fehlende Klang in Edins Inneres und der ein Blick auf die kleinen Dinge, in seinem Leben, der diesen Roman erzählfein ausgestaltet:

Der Obstkorb vor dir ist mit Kirschen gefüllt, die Stängel stehen wie Insektenbeine ab.

Besonders liebevoll ist die Beziehung zwischen Edin und Vanessa ausgestaltet, die mensch gern liest, und es Blauensteiner gelingt, Lesende durch angenehme, als auch weniger genehme Momente zu begleiten:

In Umarmungen bewahrst du sie vorm Fallen, und sie gibt dir ein Zuhause.

Es knattert, donnert, rauscht und hüpft, wenn Vanessa und Edin sich ihrer Vorliebe für Egoshooter hingeben und Zombies abknallen, auf die Beine und beide selbst im Spiel eins werden. Geprägt vom familiären Leistungsgedanken, spiegelt sich in Edin all die Ansprüche, die längst nicht unbekannt sind: Den Stolz, sich nicht erneut in Fittiche der Familie zu begeben, den Stolz, um Arbeit zu betteln, weil im Laufe der Erzählung Edin feststellt, dass Vieles verhandelbar ist, aber nicht die Würde:

Es hilft beim Überleben, aber die Würde gibt es nicht zurück.

Dazwischen ist immer das Atmen. Das Atmen trägt Edin. Nichts wird wichtiger für ihn: das Rattern, Knarren, die fehlenden Geräusche der Prozessabläufe und Arbeitshandlungen. Es stellt sich ein Overload der Stille ein, den er zu beheben weiß: Die Atemhaut wird sein bester Freund.

Du legst deine Hände auf den Bauch, bist ein Ballon, der sich aufbläst, bist eine Qualle, die sich zusammenzieht, und du weitest dich vorsichtig.

Zum Buch liefert Rojin Shafari, eine in Wien lebende iranische Komponistin, Klangkünstlerin und Tonmeisterin einen tobenden Soundtrack zum Buch, in QR-Code zwischen den Seiten enthalten. Mit Metallplatten und Feedbacksound getränkt, lässt die Künstlerin eine Klangwolke entstehen, der man nicht entkommen kann. Iris Blauensteiner und Rojin Shafari fungieren dabei zu Noise Poets, die den Klang zwischen Wort und Geräusch, einer urbanen Arbeiter:innenschicht der Neunziger, erneut hörbar machen.

[Information] Iris Blauensteiner: Atemhaut. Kremayr & Scheriau. 160 Seiten. 978-3-218-01279-9. 20 Euro.

Ein großes Dankeschön für das Rezensionsexemplar.

[rezension] AIBOHPHOBIA | Kurt Fleisch

Mit Aibohphobia legt Kurt Fleisch, so das Pseudonym des Autors, einen Roman im Briefstreitgespräch vor, der sich mit der Frage nach der Wirklichkeit beschäftigt. Dr. H., anerkannter Psychiater hat einen äußerst interessanten Patienten namens S., der trotz mehrmaliger Einweisung und starker Medikation an Wahnvorstellungen leidet. S. entpuppt sich als ideales Forschungsobjekt für Dr. H., der den Ursprung aller Geisteskrankheiten (sic!) entdeckt haben will.

Gekonnt gewitzt bewegt sich Fleisch zwischen Teilchenbeschleuniger und Zwangsmaschinen umher, baut Smart Bunker Automation, in der Alexa auf den Namen Trotzki hört, lässt Flucht ermöglichen und lässt dabei nie das Ziel aus den Augen, was denn nun Realität sei:

Aber es ist eine andere Realität, die wirklich ist.

Zwischen abgedruckten Rezepten für verschreibungspflichtige Medikation, wunderschönen, schwarz gestalteten Seiten mit Gehirnhälften zu je vier Kapiteln stößt man sich vielleicht an den veralteten Begrifflichkeiten wie geistige Störung, aber nie an der gelungenen Positionierung einer Metaebene im Text, der sich auch immer buchstäblich zeigt:

Etwas verbringe ich meine Zeit seit dem gestrigen Tage durchgehend bis jetzt, sogar während des Schreibens dieses Briefes, vor meinem Schlafzimmerspiegel, in dem ich mich zu meinem Überraschen nicht mehr sehen kann. Ich bin einfach verschwunden.

Die IT-Affinität des Autors zeigt sich am begeisterten Einfall sich selbst auflösender Programme, die in KERNEL PANIC: FATAL EXCEPTION enden und den Leser:innen unweigerlich ein memento mori der besonderen Art beschert: Was ist bleibt, wenn nichts mehr ist und wo befindet sich die Shell? Was ist nun mit der Hardware oder wie es Fleisch sagen würde:

Maschinen und Gehirne, was naturgemäß ein- und dasselbe ist.

Poetisch und dem Roman mehr Tempo verliehen, zwischen Diener, Reisen, Medikamentenbesorgungen rettet sich Fleisch aus der Misere mit einem Blick ins Universum:

Ich sehe tausend Sterne, die nicht mehr existieren, die längst verglüht und vernichtet sind.

Verschwinden und auftauchen, entfliehen und erscheinen lässt sich das Krankheitsbild einer kreativ angelegten Psychose erraten, die sich selbst in kräftige Bilder ein- und untermauert. Die intellektuell anspruchsvolle, zuweilen antiquierte Sprache macht nicht immer, aber meistens Spaß.

Aibohphobia ist übrigens die Angst vor Palindromen, also Wörter, die von vorne oder von hinten gelesen dasselbe ergeben. Eine gedankliche Zwangszuordnung lässt dieser Roman allerdings nicht zu. Kreative Geister werden nicht davor zurückscheuen, den Versuch zu starten, das Buch auch auf der letzten Seite zu beginnen: zu groß war die Freude, diese kreative Prosa nur einmal zu lesen.

[Information] Kurt Fleisch: AIBOHPHOBIA. Kremayr & Scheriau. 176 Seiten. ISBN:978-3-218-01310-9, 20 Euro.

[rezension] Langeweile // Isabella Feimer

Poetisch und überlegt, begibt sich Isabella Feimer auf die Suche nach der Langeweile. Ein gefürchtetes Unding, häufig gepaart mit Warten und Stille, passt es so gar nicht in eine Welt, die sich an Produktivität und Optimierung misst. Langeweile sucht sich im Dunkeln, wenn sie mit Wehmut und Isolation ein Gespann bildet und entdeckt sich im flirrenden Hell, wenn Mensch sich wonnig einer vorbeiziehenden Landschaft ergötzt.

Zwischen Buchdeckeln in taubengraulila (fast schon „käferkörpergrau“) erliest Mensch sich eine Recherche, dass das Gute und Schlechte im „acedia“ sucht (= Nichtstunwollen), ebenso wie sehnsüchtige Langeweile, die darin gipfelt, dass Frauen klischeehaft schwermütig aus dem Fenster sehen.

Die Autorin scheut die Auseinandersetzung mit der Langeweile nicht, sie setzt sich einem Selbstversuch nach einer Idee der Performancekünstlerin Marina Abramović aus. In Achtsamkeit übend, trennt sie zählend Reis von Linsen. Ein Versuch, zu erahnen, was das sein könnte, diese Langeweile, die wir zu wenig verspüren. Gelungen, wenn ein geschärfter Blick und eine komplette Koppelung zur Gegenwärtigkeit einzig übrigbleiben.

Langeweile erweist sich als komplexes, schwieriges Thema, das die Autorin ebenso literarisch verarbeitet:

BEFANGENHEIT UND EIN VERKÜMMERN NACH BEDEUTUNG UND NACH SINN, DAS SAGE ICH, EIN KÖRPER, DER SEINE MÄNGEL IST, FEDERLEICHT UND BLEISCHWER ZUGLEICH, UND EINE LANDSCHAFT, UNSICHER, OB SIE AUCH TATSÄCHLICH EINE LANDSCHAFT IST,

WEIL
EINSAM
SCHATTENLOS KONTURENFERN
WEIL
„SICK WITH LONELINESS“ WEIL ALLES NICHTS IST UND ALL SEEMS LOST.

Langeweile // Isabella Feimer S. 66

Auch die Pandemie wird zum Thema gemacht, in der sich viele in das Selbst zurückgeworfen sahen und ein von Lockdown-bestimmtes Leben führen mussten. Gehäuft zitatgeladen und auffällig der Poesie verschrieben, nimmt das Buch lyrikbegeistertes Lesepublikum auf eine anregend philosophische Reise mit. Der Weg schlängelt sich unbeirrt zwischen Boreout Syndrom, in dem sich Langeweile gern mit Aggression paart, der Frage, ob Tiere der Langeweile mächtig seien und dem lustvollen, schmerzlichen Gefühl der Leere.

Eine Frage wirft dieser Band unweigerlich auf:

Kann man ein Buch über Langeweile schreiben, ohne dass es langweilig zu lesen wird?

Die Antwort: Feimer kann. Songtexte von Iggy Pop und Lionel Richie fügen sich nahtlos an Zitate von Walter Benjamin, Martin Heidegger, Virginia Woolf oder Hannah Arendt und philosophisches Grundlagenwerk zum Thema. Langweilig wird die Lektüre jedenfalls nicht.

[Information] Isabella Feimer: Langeweile. Kremayr & Scheriau. 112 Seiten. ISBN: 978-3-218-01317-8, 18 Euro.

[rezension] Martin Peichl | Matthias Ledwinka – Gespenster zählen

Wie zählt man Gespenster, willst du wissen, ganz normal, sage ich, man fängt bei eins an, dann zwei und so weiter. Wie immer, wenn du meine Wohnung verlässt, nimmst du die Treppen, dem Lift traust du nicht, schon gar keine fünf Stockwerke lang.

Gespenster, das sind: gesammelte Fragmente verlorener Menschen, Glaubenssätze, Songtexte, Gedichtzeilen, Erinnerungen, entledigte Hoffnungen, verdrängte, aber nie vergessene Lieben: Immer die Frage, ob das ein Geist ist oder ob man ihn eventuell trinken kann.

Geist heißt hier eine präsente Anwesenheit der Abwesenheit, eine Fülle an Erinnerungen, an gedachte Zweisamkeiten in einer allgegenwärtigen Einsamkeit. Die Fotos sind stiller Begleiter dieser Alleinsamkeit: In blassen Farben gehalten stechen die grellen Thematiken dieses Buches hervor: ein Kennenlernen menschenloser, verlassener Orte. Überall sind leere Fahrzeuge, Geschäfte, Häuser, Züge, Straßen, Seen. Kurzum eine Sammlung von lost places, die ihre Trennung von Menschen und ihre Isolation stolz vor sich hertragen, genauso um ihre Vergessenheit und ihr Verschwinden zu dokumentieren; eine persönliche Ausstellung für zu Hause.

Es zollt selbstverständlich Tribut an die unlängst verstorbene Schriftstellerin Elfriede Mayröcker, die mit ihrem Buch „brütt oder die seufzenden Gärten“ oder mit „Paloma“ Eingang findet – eine literarische Ausnahmekünstlerin, der im ungleichen Ausmaß mehr Anklang bei deutschsprachigen, männlichen Schriftstellern findet als sonst eine Schriftstellerin. Umso erfreulicher, dass nun auch Spuren von Ingeborg Bachmann, Elfriede Gerstl oder Marlen Haushofer zu finden sind.

Während das ungewöhnliche Format auffallend und eindrucksvoll adrett und geordnet daherkommt, wird eine innere Ordnung nicht manifest, einige Bilder aus dem zweiten Buch „In einer komplizierten Beziehung mit Österreich“, finden hier erneut Eingang, und lesen sich wie eine Vorahnung auf „Gespenster zählen„:

Wir bleiben zurück als Gespenster als Scherenschnitt

In einer komplizierten Beziehung mit Österreich

Wenn man Peichls Namen im Katalog der Wiener Büchereien sucht, findet man zwangsläufig auf der ersten Seite das Handbuch der Psychotraumatologie; „Gespenster zählen“ ist zwingend traumatisch poetisch: es geht ums Anschauungen abfragen in künstlerisch literarischer Pose, es wird mehr gezeigt als gewollt als im Debütroman „Wie man Dinge repariert“. Es ist zeitgleich ein Stück Dorfliteratur genauso wie Erinnerungen an eine Stadt, die es in dieser Form nicht mehr gibt.

Das Buch, das diesmal auf Seitenzahlen verzichtet und Ordnung mit einer Bild und nummerierten Textabfolge herstellt, gestaltet sich mit weniger Leserausch als die letzten beiden Bücher, mehr als dokumentarisches Bereuen: Seelen bröckeln und vergeistern, auch eigenen Gedanken sind Gespenster und spuken im Kopf herum. Spürbar wird eine radikale Wehmut, die Liebe häufig mit Schmerz verbindet, und ein melancholischer Unterton, der die Roadtrips durch die Vergangenheit begleitet.

[Information]

Martin Peichl & Matthias Ledwinka: Gespenster zählen. Kremayr & Scheriau. 160 Seiten. durchgängig vierfärbig. ISBN978-3-218-01282-9. 22 Euro.

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