„Es stinkt, nach ihm, nach der Nacht, nach Zigaretten, ein bisschen auch nach Selbstmitleid. Da ist ein Schmerz, als wäre ein Fremdkörper im Kopf.“
Kalk, Mitte 50, in einem Elektrofachhändel tätig, macht Urlaub. Er muss raus, aus seinem Alltag, aus seinem verschissenen Leben, durchatmen und Neues in den Kopf bekommen. Die Gespräche beim allwöchentlichen Tischtennis spielen mit Förster langweilen und nerven ihn, es ist für ihn alles immer die gleiche Leier, sei es sich wiederholende Verkaufsunterhaltungen, das Einkaufen gehen, die kaputte Beziehung zu Nina.
Obwohl er in weit entfernte Länder reisen könnte, beschließt er dennoch den Urlaubsort seiner Kindheit aufzusuchen – ein verschlafenes Nest in den Niederlanden, Kijkduin. Dort gibt es bloß eine Strandpromenade und eine Einkaufspassage, genau so wenig Attraktionen, damit Kalk zu sich finden kann. Die Selbstfindung lässt jedoch auf sich warten – Kalk wird unfreiwillig zum Helden und rettet einen Jungen, der hinaus in Meer treibt. Aus Dankbarkeit muss er sich nun mit der Familie Berger herumschlagen, die ihn freundlicherweise zum Essen einlädt und die Frau noch freundlicher zu verstehen gibt, dass sie sexuelles Interesse an Kalk hat.
„Mit f, meine Eltern waren einfache Leute.“
„Würdest du mich ficken, Stefan Kalk mit f?“
Bitte, denkt Kalk, sag nicht Stefan zu mir.
„Natürlich würde ich das.“
Die Situation entgleitet Kalk, er merkt, nur ein Lückenbüßer zu sein, egal ob es bei seinem Freund Förster ist, oder bei Melanie Berger, oder Nina. Kalk trinkt viel zu viel, wacht ständig mit Kopfweh auf und schlägt sich den Magen mit Frikandel voll. Er bemerkt, wie er seinem Vater immer ähnlicher wird und nun selbst in dem Stadium eines weißen, alten Mannes angelangt ist.
Bernemann, selbst Exemplar der Generation X, denkt sich in dem Roman „Kalk“ in eine Boomer Generation hinein und bleibt doch in der Orientierungslosigkeit der eigenen Generation hängen. Eine typisch, deutsche Kindheit, die geprägt von Nordseeurlauben ist, gerne auch in den benachbarten Niederlanden, will neuen Sinn finden. Kalk dient dabei als Vorlage als Ausweglosigkeit eines missglückten Lebens. Spannend und neu ist das nicht, witzig schon:
„Zeit vergeht, einfach so. Altern ist eine Nebenhandlung menschlicher Existenz. Das Unvermeidbare geschieht ohnehin. Die Enttäuschungen, die währenddessen passieren, intensivieren nur das Drama der Existenz.“
Das eigene Drama liefert Bernemann frei Haus – wir alle könnten die Kalks einer ungewissen Zukunft sein, gefangen in einem Leben, das wir uns anders hätten erträumt, geschunden von kaputten Beziehungen, misanthropisch wegen all der schlechten Erlebnisse. Zeitweise hat man Mitleid mit dem gepeinigten Kalk, zeitweise steigt Zorn auf, wie schlecht die anderen Menschen in Kalks Leben wegkommen. Man kann Kalk nicht mögen und ihn doch verstehen.
Vielleicht gelingt es dann noch, zu verstehen, warum man inhaltlich noch ein Buch einem alten, weißen Mann gewidmet hat. Wer der Welt mit Zynismus begegnet, wird es lieben. Alle anderen verlieren sich zumindest gerne in der Sprache, die so ungefiltert in die Welt stolpert.
[Information] KALK. Dirk Bernemann. Edition W. 201 Seiten. ca. 25 Euro.