Monat: August 2022

[rezension] Kaltes Herz fast Eis | Michaela Kastel

„Ich bleibe stehen und verschnaufe. Ich habe die Teufelsmauer erreicht. Zwei Stunden bin ich bereits unterwegs, zwei Stunden nichts als Frischluft, Kälte und das Ausschöpfen dieser Kraft, die sich in den quälenden Tagen des Nichtstuns wie etwas Fauliges in meinem Körper aufgestaut hat und dringend ausgeschieden werden muss. Manchmal komme ich mir vor wie ein weit geöffnetes, tiefes Gefäß vor, das jeden Sonnenstrahl, jedes Molekül in sich auffängt und in pure elektrifizierende Energie verwandelt.“

Caro versteht nicht, was ihren Verlobten Alex immer wieder in die Berge gezogen hat. Selbst nach seinem baldigen Tod in den Bergen versteht sie es nicht. Mit ihrem Bruder Ben begibt sie sich in seinen Ferien nach Schirau, der Ort, an dem ihr Verlobter gestorben ist. Alte Wunden klafften hier erneut auf, genauso wie die schroffe und kantige Oberfläche der Berge rund um sie: Das Sterben ihrer Eltern hat sie und ihren Bruder in ein tiefes Loch gezogen, genauso wie der unerklärliche Tod von Alex, der als versierter Kletterer nie hätte umkommen dürfen. Mit dem Profikletterer Samuel Winterscheidt kommen endlich Antworten in ihr Leben, war er es doch, der bei der Rettungsaktion für ihren Verlobten beteiligt war. Samuel zeigt sich dabei zunächst alles andere als zugänglich. Abweisend und herrisch weist er jede:n in seine Bahnen, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Caro schafft es dennoch und bekommt Sami dazu, ihr das Klettern beizubringen. Was Caro nicht weiß, ist, welche Geheimnisse der Kletterer vor ihr verbirgt.

Es ist furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt, die dich genauso schnell begeistert, wie sie dich umbringt.

Kastels Roman ist ebenso furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt tut sich da auf: Sie blickt in menschliche Abgründe und stellt die Lesenden vor Dilemmata: Darf man sich zugunsten von anderen retten? Geht Eigenschutz tatsächlich immer vor Fremdschutz? Welche Zugeständnisse muss man machen, wenn man in der Schuld von jemand anderen steht?

So muss es sich anfühlen, wenn man auf dem Weg ins Paradies ist. Oder in die Hölle. Ich schon immer, dass eines wie das andere ist. Nur durchs Klettern erreicht man den wahren Himmel. Und genau das werde ich jetzt tun.

„Kaltes Herz fast Eis“ liest sich wie eine Hymne an das Klettern, ist jedoch mehr als nur ein Bergsteigerroman, sind die Berge als rahmengebende Handlung zu verstehen und die Beziehungen der Figuren untereinander viel wesentlicher für das Fortkommen der Geschichte. Neben Caro und Samuel sind vor allem die Oliver, Samuels Bruder und Jana, Freundin und Angestellte von Samuel und Oliver wesentlich für den Roman. Manfred, als jüngste und manipulativste Figur, sowie der Wolf entpuppen sich als netter, wenn auch nicht nötiger Sidekick für die Geschichte.

Es war dumm zu glauben, meine Welt gegen seine eintauschen zu können, bloß weil meine in Trümmern liegt. Die Teile passen nicht zueinander, und versucht man sie gewaltsam zusammenzustecken, wird nur alles zerbröckeln.


Dieser Roman entscheidet sich nicht gewaltsam, was er sein möchte: Zwischen Thriller, Liebesgeschichte und Krimi eingebettet wird hier eine Geschichte erzählt, die trotz all der Kälte und dem Eis, es zumindest ein bisschen schafft, das Herz warm werden zu lassen für die gute Ausgestaltung der Charaktere. Liebhaber:innen von schnell erzählten Romanen und dem unbändigen Bedürfnis, von Literatur unterhalten und zeitgleich informiert zu werden, finden mit Kastels „Kaltes Herz fast Eis“ eine Erzählung, die dies mit Sicherheit abdeckt. Wer handlungsgetriebene, perspektivreiche Romane mag und gern einmal in die Thematik des Kletterns einsteigen möchte, erklimmt dieses Buch so einfach wie die im Roman beschriebene, fiktive Teufelsmauer.

[Information] Kaltes Herz fast Eis. Michaela Kastel. Emons Verlag. 352 Seiten ISBN 978-3-7408-1242-3, 22,70 €.

Danke an die Literaturagentur Wildner für das Rezensionsexemplar.

[rezension] Erbgut | Bettina Scheiflinger

Diese Sprache lässt die Hände ihrer Mutter und der Nachbarinnen tanzen. Es ist die Sprache der Mutter, die Rosa nicht versteht.

Multiperspektivisch konzipiert, erzählt dieses Buch die Geschichte von vier Frauen und einem Mann, der das Bindeglied für die unterschiedlichen Biografien dieser Frauen darstellt. Rosa ist dabei eine von fünf Stimmen, die sich in Bettina Scheiflingers Debütroman „Erbgut“ erhebt. Sophia und Johanna bilden dabei die älteste Erzählriege, bei der auf drei Generationen angelegte Geschichte. Trotzdem gleicht ihr Leben der jeweils anderen nicht:

Sophia kämpft mit Rassismus aufgrund ihrer Ehe mit einem Schweizer namens Emil. Mehr als nur einmal hören Sophia, Emil und ihre Töchter Maria und Rosa, dass sie eine Tschinggenfamilie sind – im Dialekt eine abwertende Bezeichnung für Familien, in denen ein Teil davon ItalienerInnen sind. Das Suchen nach Identität und Ruhe führt die Familie an verschiedene Orte, genauso wie die Verweigerung seitens Sophia ihren Töchtern Italienisch beizubringen.

Johanna lebt auf einem Hof, der gleichsam ein Gasthaus ist. Sie führt allein gemeinsam mit ihren Kindern Frieda, Ilse und Arno den Betrieb, da sich ihr Ehemann Franz aufgrund seiner nationalsozialistischen Vergangenheit in einem Gefangenenlager befindet. Mit Johanna erlebt man das Schicksal einer tapferen, unabhängigen, alleinstehenden Frau, die trotz der Rückkehr ihres Ehemannes separat und isoliert bleibt.

Arno entkommt im Laufe des Romans dem Vater-Sohn-Konflikt nicht. Häufig physisch schwer vom Vater misshandelt, kämpft er Zeit seines Lebens mit seinen Rollen als Sohn von Franz und Sophia, Ehemann von Rosa, als auch Vater von der Anna und der Ich-Erzählerin. Arno und Rosa erzählen jeweils als zweite Generation im Buch über die eigene Biografie, die zweifelsohne um die Suche nach Zusammenhalt, Krankheit, familiäre Beziehungen und Selbstverwirklichung dreht.

Frieda, als Schwester von Arno, Schwägerin von Rosa und Tochter von Sophia, zeigt sich dabei wesentlich für die Erzählung. Sie stellt in diesem Roman mit ihrer Lebensgeschichte einen weiteren Erzählstrang dar, an dem das Thema Abtreibung, Unabhängigkeit und Verlust von Lebensentscheidungen abgearbeitet wird.

Das Ich, das als Tochter von Arno und Rosa Platz in der Erzählung findet, durchwandert im Laufe der Erzählung die Phasen der Abnabelung ihres Elternhauses, des eigenständigen Wohnens in Wien und der Suche nach einer Liebe, die sich gut anfühlt. Als jüngste Erzählstimme in den Roman eingeflochten, erfährt man über die Suche einer jungen Frau nach dem Verständnis für ihren Körper, der häufig von einer Hassliebe begleitet wird, auch in Zeiten einer unerwarteten Schwangerschaft:

Ich stehe nackt vor dem Spiegel im Bad. Ich frage mich, ob dieser Körper, mein Körper, gut genug ist. Ich suche Stellen, die es mir beweisen. Ob es möglich sein wird, ihn zu akzeptieren, irgendwann, frage ich mich. Er verändert sich dauernd, innen und außen.

Scheiflingers Roman „Erbgut“ benötigt Durchhaltevermögen, Anstrengung und Konzentration beim Lesen, aber: Es lohnt sich. Wenn man davor nicht zurückscheut und sich auf die vielen Perspektivenwechseln einlassen kann, wird man mit einer Geschichte belohnt, die facettenreicher nicht sein könnte.

Wenngleich der Konflikt zwischen Arno und Franz sich wiederholt auflädt und nie zu einer Entladung kommt und dieser bedauerlicherweise keine Entwicklung widerfährt, wird diese den Frauenfiguren immerhin auf sehr vielen Ebenen zugestanden.

Sehr beeindruckend ist der Umgang mit dem Thema Körper und Schwangerschaft, die nicht nur als etwas Positives beschrieben wird. Alle Körper, ob alt, jung, dick, dünn, gesund, krank, schwanger oder nicht, werden thematisiert und jede Erzählfigur bekommt Raum und Zeit, diesen auszuverhandeln:

Meine Haut kräuselt sich wohlig unter meiner Berührung und es rieselt in meiner Brust.

Bettina Scheiflinger verwebt in die Geschichte dreier Generationen, die unterschiedlicher nicht sein können, krass schöne Sätze, die hängen bleiben und für sich alleinstehen können:

Dabei berühre ich mich und ihn mit meinen Händen, an den Schülern, am Hals, bis zu den Beinen. Wir sind ein Knäuel aus Haut und Gliedern und Atemstößen.

Die Hürde, personale und auktoriale Perspektive zu vermischen und dabei noch Sinn zu ergeben, wurde meisterhaft genommen. Die Dynamiken im konzipierten Figurenensemble sind spannend, vielschichtig und gut erzählt. „Erbgut“ von Bettina Scheiflinger, im Verlag Kremayr & Scheriau kürzlich erschienen, gliedert sich damit mehr als verdient in die Reihe gelungener Debütromane ein.

[Information] Erbgut. Bettina Scheiflinger. Verlag Kremayr und Scheriau. 192 Seiten. ISBN: 978-3-218-01329-1. 22 Euro.

Das Rezensionsexemplar wurde von der PR-Agentur für Öffentlichkeitsarbeit des Verlages zur Verfügung gestellt. Ein großes Dankeschön hierfür.

[litrobona|rezension] Ein Mädchen namens Wien | Sahar Mandûr

Sahar Mandûrs Ein Mädchen namens Wien. Ein Frauenleben REZENSION Katharina Peham, 10. August 2022 Wien, ein Mädchen, deren Geburt im libanesischen Beirut von Bürgerkrieg begleitet wird und gleichzeitig mit ihrem Geschlecht die Hoffnung des Vaters auf einen Stammhalter begräbt, sucht ihren Platz als Mädchen, später als Frau in einer Gesellschaft, die sich zwischen Tradition und […]

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