Kategorie: Rezensionen (Seite 5 von 12)

[litrobona|rezension] Spiel der Heugabeln: Marcus Fischers Die Rotte

REZENSION Katharina Peham, 21. Oktober 2022 Im Halbschlaf sind die Gedanken gekommen. Gedrückt haben die vorn in der Stirn. Und in der Brust. Immer härter sind sie geworden, jeder Gedanke ein Brocken, bis der Kopf selber zum Brocken geworden ist und sie aus dem Steinernen nicht mehr herauskommen ist.  Alles ist düster und dunkel in […]

Spiel der Heugabeln: Marcus Fischers Die Rotte — litrobona

[rezension] Um mich herum Geschichten | Luna Al-Mousli

Nach einem dieser Sommer fing alles an. Präsidenten stürzten in Nachbarländer. Die Straße war belebt mit leblosen Menschen.

Geschichten begleiten einen oft das ganze Leben lang, so unscheinbar sie sein mögen. Gespräche, Begebenheiten, die sich tief festsetzen in der Erinnerung und Jahre später zum Vorschein kommen. Besonders scheint dies für Geschichten aus zerrütteten Staaten der Fall zu sein. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen, die Suche nach einer neuen Identität, wenn die alte nicht mehr möglich ist. Erinnerungsfetzen erzählen von Erlebnissen unmittelbar und sanft. In „Um mich herum Geschichten“ sind es unauffällige Gegenstände, die jeweils die Geschichte einer Großfamilie in Damaskus erzählt. Luna Al-Mousli erzählt das Leben ihrer Tanten, Onkel, Großeltern in einem Staat, der seit 2011 gebeutelt von Krieg ist. Es ist die Promotionsurkunde, die verstaubt eine traurige Geschichte erzählt, obwohl sie als wichtigstes Lebensereignis gehandelt wird. Es ist die Oud, eine arabische Laute, die das Leben eines Mannes begleitet, dessen Leben als Musiker, Vater und Partner auseinanderbricht, weil der Alkoholismus nicht zu kontrollieren ist:

Er verlor sich in all den Möglichkeiten. In der Wohnung wurde es häufiger laut oder unheimlich still. Frustriert standen er und seine Liebe da. Sie rangen nach Luft und den richtigen Worten. In keiner Sprache wurden sie fündig, obwohl sie sich eigentlich viel zu sagen hatten.

Es ist ebenso die Geschichte eines Anzugs, der für die Abschlussfeier des Sohnes gekauft wurde, bevor der Krieg ausbricht.  Es ist die Geschichte eines Schlüssels, der seinem Zweck nicht nachkommen kann, weil Flucht notwendig wird. So unbewegt und unscheinbar die Gegenstände sind, die die Geschichte dieser Großfamilie erzählen, so bewegt und ergreifend konzipiert Al-Mousli traurige Elemente wie den Tod:

Der Großvater war gestorben. Egal wie sonnig es in den nächsten Tagen auch wurde, das Lichterspiel des Kristallleuchters reichte nicht aus, um die Trauer aus dem Wohnzimmer zu verjagen.

Wie können Autor:Innen über den Krieg schreiben, ohne dass der Krieg auf jeder Seite sitzt? Al-Mousli machts vor. Sie schreibt anhand der Großfamilie über die Sorgen und Ängste der einzelnen Familienmitglieder. Menschen sterben, werden Gewalt ausgesetzt und finden einander wieder. Behutsam führt die Autorin die Lesenden zu den wichtigen Fragen im Leben: Was wollen wir sein? Wer können wir sein? Oder ganz poetisch:

Welche Luft wollten sie einmal einatmen, wenn der letzte Atemzug getan war?

Wenngleich es schwer für Lesende sein dürfte, das 150 Seiten dünne Buch als Roman wahrzunehmen, oder die arabischen Schriftzeichen zu verstehen, verbreitet „Um mich herum Geschichten“ eine Familiengeschichte zwischen Melancholie und purer Lebensfreude. Der in der Edition W erschienene Band, der sich mehr als Kurzgeschichtenband zu verstehen gibt, wird in seiner nahbaren Erzählform dadurch um nichts geschmälert. Die in Wien lebende Autorin Luna Al-Mousli webt zudem geschickt im Band einen familiären Wien-Bezug ein. Ein Buch voller Heimatlieben – der alten und der neuen.

[Information]: Um mich herum Geschichten. Luna Al-Mousli. Westend Verlag. 150 Seiten. ISBN 9783949671005. 16 Euro.

Ein Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

[litrobona|rezension] Vom Verdrängen: Beate Knieschecks Eva & Söhne

REZENSION Katharina Peham, 19. September 2022 Dass meine Oma für ihre eigene Leistung Respekt und Anerkennung verdient hätte, kam ihr nicht in den Sinn, auch nicht, als sie das Geschäft an ihren Sohn übergab. […] Und so fiel nie jemanden auf, dass das Lebenswerk meines Vaters auf einem Fundament stand, das von Frauen geschaffen wurde. […]

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[rezension] Lento Violento | Maria Muhar

Vorsichtig löst Ruth eine hauchdünne silberne Scheibe vom Dach. » Ein Vollmond «, sagt sie leise und legt ihn in Daniels Hand. Man kann ihn kaum halten, so zerbrechlich sind seine Ränder.

Ruth lernt Daniel in der Nähe des Wiener Praters kennen, als sie betrunken ist. Als sie allein nicht mehr nachhause findet, bringt Daniel sie zurück in die unweit gelegene WG, die sich die queere, Skateboard-affine Ruth mit ihrer Mitbewohnerin Alex teilt. Ruth und Daniel werden Freunde, und als er sich seine Wohnung nicht mehr leisten kann, zieht er kurzum zu Ruth und Alex. Die drei könnten unterschiedlicher nicht sein: Daniel, der zurückgezogen und still mit seiner Umwelt verschwimmt; Ruth, die sich danach sehnt, dass die Tage vergehen und Ordnung in ihr chaotisches Leben kommt; Alex, die Schriftstellerin ist und gegenwärtig an einem Roman über die Musik und Jugendkultur der 1990iger und frühen 2000er Jahre arbeitet. Dabei werden Daniel und Ruth zwangsbeschallt mit den Beats ihrer Jugend und Alex bringt diese dabei an die Grenze des Ertragbaren. Mit ihrem Therapeuten spricht und schweigt sie über den Roman, der Therapeut sorgt sich um ihre psychische Stabilität. Als sie in den Westen Österreichs fährt, um auf dem Land zu schreiben, verbarrikadieren Ruth und Daniel die Wohnung und bauen das Sammelsurium an Gegenständen und Büchern in einen öffentlichen Bücherschrank aus, der ganz und gar privat ist. Spätestens jetzt ist nicht mehr klar, was Realität ist und Fiktion.

Muhar lässt es krachen, sie rantet und raved literarisch über die Zeiten des Eurodances, des Lento Violentos hinweg. Millennials, das sind die letzte Generation mit neuen Erfindungen, seit der Jahrtausendwende ist man laut des Buches in einer Zeitschleife, man hängt in den Neunzigern fest, so das hier häufig zitierte Wien am Prater. Der Ton ist hart und unnachgiebig dabei:

Kotze, wenn ich dieses Wort… Die Seele, wie ein nasser Seelöwe am kalten Beckenrand im Zoo. Fütter dich doch einmal in deinem scheiß Leben selbst, nasser Seelöwe. Ich weiß. Du kannst nicht.

Die Figuren entwickeln sich nicht, sie sind selbst in der Zeitschleife der neunziger Jahre gefangen. Enttäuscht, entsetzt darüber, welches Bild sie selbst von sich in der Zukunft hatten, und was sie nun darstellen. Die große Orientierungslosigkeit schwemmt auf Lesende über, bei der man zunächst nicht weiß, wem sie gehört, bis man im Verlauf des Buches darauf gestoßen wird: Niemand weiß so recht, wohin er/sie gehört, alle wissen nicht, wohin mit sich.

Die zitierten Textpassagen reichen von U96, Scooter, Gigi D’Agostino und landen schließlich bei Blümchen, STS und den Vengaboys. Eine wilde Mischung, die Millennials und Fans der Neunziger zweifelsohne den ein oder anderen Ohrwurm gratis dazu liefert.

Geordnete Textpassagen, stringente Handlungsstränge und Figuren mit Entwicklungsdrang sucht man in „Lento Violento“ vergebens. Fast euphorisch drängen sich in diesem Roman Themen wie Drogen, Depression, Ängste und Zwänge den Lesenden auf. Muhar kratzt sarkastisch an oberflächlichen Lebensverläufen und bringt einen zwangsläufig zum Lachen, wenn sie ihre Figuren einem Sautanz-Buffet aussetzt oder zu den Vengaboys am Ballhausplatz tanzen lässt.

Lento Violento ist eine musikalische, literarische Reise in die Vergangenheit, die besonders für jene interessant sein dürfte, die sich zu den elektronischen, bassbasierten Beats die Füße in Clubs kaputt getanzt haben, als man zu diesen noch Diskotheken sagte.

[Information] Lento Violento | Maria Muhar. Kremayr & Scheriau. ISBN: 978-3-218-01325-3. 208 Seiten. 22 Euro.

Ein großes Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

[rezension] Kaltes Herz fast Eis | Michaela Kastel

„Ich bleibe stehen und verschnaufe. Ich habe die Teufelsmauer erreicht. Zwei Stunden bin ich bereits unterwegs, zwei Stunden nichts als Frischluft, Kälte und das Ausschöpfen dieser Kraft, die sich in den quälenden Tagen des Nichtstuns wie etwas Fauliges in meinem Körper aufgestaut hat und dringend ausgeschieden werden muss. Manchmal komme ich mir vor wie ein weit geöffnetes, tiefes Gefäß vor, das jeden Sonnenstrahl, jedes Molekül in sich auffängt und in pure elektrifizierende Energie verwandelt.“

Caro versteht nicht, was ihren Verlobten Alex immer wieder in die Berge gezogen hat. Selbst nach seinem baldigen Tod in den Bergen versteht sie es nicht. Mit ihrem Bruder Ben begibt sie sich in seinen Ferien nach Schirau, der Ort, an dem ihr Verlobter gestorben ist. Alte Wunden klafften hier erneut auf, genauso wie die schroffe und kantige Oberfläche der Berge rund um sie: Das Sterben ihrer Eltern hat sie und ihren Bruder in ein tiefes Loch gezogen, genauso wie der unerklärliche Tod von Alex, der als versierter Kletterer nie hätte umkommen dürfen. Mit dem Profikletterer Samuel Winterscheidt kommen endlich Antworten in ihr Leben, war er es doch, der bei der Rettungsaktion für ihren Verlobten beteiligt war. Samuel zeigt sich dabei zunächst alles andere als zugänglich. Abweisend und herrisch weist er jede:n in seine Bahnen, wenn ihm jemand zu nahe kommt. Caro schafft es dennoch und bekommt Sami dazu, ihr das Klettern beizubringen. Was Caro nicht weiß, ist, welche Geheimnisse der Kletterer vor ihr verbirgt.

Es ist furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt, die dich genauso schnell begeistert, wie sie dich umbringt.

Kastels Roman ist ebenso furchterregend und wunderschön zugleich. Eine fremde, wilde Welt tut sich da auf: Sie blickt in menschliche Abgründe und stellt die Lesenden vor Dilemmata: Darf man sich zugunsten von anderen retten? Geht Eigenschutz tatsächlich immer vor Fremdschutz? Welche Zugeständnisse muss man machen, wenn man in der Schuld von jemand anderen steht?

So muss es sich anfühlen, wenn man auf dem Weg ins Paradies ist. Oder in die Hölle. Ich schon immer, dass eines wie das andere ist. Nur durchs Klettern erreicht man den wahren Himmel. Und genau das werde ich jetzt tun.

„Kaltes Herz fast Eis“ liest sich wie eine Hymne an das Klettern, ist jedoch mehr als nur ein Bergsteigerroman, sind die Berge als rahmengebende Handlung zu verstehen und die Beziehungen der Figuren untereinander viel wesentlicher für das Fortkommen der Geschichte. Neben Caro und Samuel sind vor allem die Oliver, Samuels Bruder und Jana, Freundin und Angestellte von Samuel und Oliver wesentlich für den Roman. Manfred, als jüngste und manipulativste Figur, sowie der Wolf entpuppen sich als netter, wenn auch nicht nötiger Sidekick für die Geschichte.

Es war dumm zu glauben, meine Welt gegen seine eintauschen zu können, bloß weil meine in Trümmern liegt. Die Teile passen nicht zueinander, und versucht man sie gewaltsam zusammenzustecken, wird nur alles zerbröckeln.


Dieser Roman entscheidet sich nicht gewaltsam, was er sein möchte: Zwischen Thriller, Liebesgeschichte und Krimi eingebettet wird hier eine Geschichte erzählt, die trotz all der Kälte und dem Eis, es zumindest ein bisschen schafft, das Herz warm werden zu lassen für die gute Ausgestaltung der Charaktere. Liebhaber:innen von schnell erzählten Romanen und dem unbändigen Bedürfnis, von Literatur unterhalten und zeitgleich informiert zu werden, finden mit Kastels „Kaltes Herz fast Eis“ eine Erzählung, die dies mit Sicherheit abdeckt. Wer handlungsgetriebene, perspektivreiche Romane mag und gern einmal in die Thematik des Kletterns einsteigen möchte, erklimmt dieses Buch so einfach wie die im Roman beschriebene, fiktive Teufelsmauer.

[Information] Kaltes Herz fast Eis. Michaela Kastel. Emons Verlag. 352 Seiten ISBN 978-3-7408-1242-3, 22,70 €.

Danke an die Literaturagentur Wildner für das Rezensionsexemplar.

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