„Es traf sie ins Mark, auf vergilbtem Papier mit blauer Tinte geschrieben ihre Identität besiegelt zu sehen, die sie, Frieda, auf ihre Eigenschaft als Flüchtling reduzierte.“

Die Lübeckerin Alma Curtz muss 1947 die von den Masuren geflüchtete Frieda Markuweit per Zwangszuweisung in ihre Wohnung aufnehmen. Beide Frauen teilen das Schicksal Witwe zu sein, teilen sich aber bis auf ihre neue Lebensrealität keine Gemeinsamkeiten. Alma ist zunächst sehr hart und ablehnend gegenüber Frieda, die sich jedoch Tag für Tag mehr wohl fühlt in ihrem halben Zimmer. Als sich Alma, die davon träumt wieder tanzen zu gehen und ihren Kurzwarenladen erneut zu öffnen, offenbart, weder lesen noch schreiben zu können, organisiert Frieda Schiefertafel und eine Fibel und die beiden Frauen kommen einander näher und können ein zartes Band der Freundschaft knüpfen. Frieda entdeckt die Stadt Lübeck für sich und freut sich, neue Kontakte zu haben, wie Cecile, die ebenso frankophil wie sie ist. Das aufstrebende Lübeck der 1940iger Jahre sowie die aufkeimende Hoffnung auf ein Deutschland ohne Nationalsozialismus prägen die Geschichte beider Frauen und ihrer Liebsten.

Anette L. Dressler legt mit „Brockessstraße Beletage“ einen Debütroman vor, der von Erzählungen ihrer Großeltern, Eltern und dem Freundeskreis der Familie gespeist ist. Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig- Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu diesem Roman. Dressler sucht nach unterschiedlichen Lebensverläufen, nach einer Sichtbarmachung einer Geschichte, die Frauen sonst vergisst. Alma Curtz und Frieda Markuweit dienen als Vorlage für die Themen, die mit der neuen Republik erstmals zur Sprache kommen: Die Familienrechtsreform, die erst 30 Jahre später das Schicksal vieler Frauen verändern wird. Erziehungsfragen, die sich abseits der schwarzen Pädagogik in der NS-Zeit bewegen. Bildung und Selbstständigkeit von Frauen, sowie erst Wahlen, in der mit der Wahl Konrad Adenauers ein Stück deutscher Geschichte festgehalten wird. Das Buch kreist dabei um die Löcher und Lücken, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat, thematisiert ihn aber dabei kein einziges Mal. Lesende werden mit der Frage, wo sich die ganzen Befürworter:innen und Kollaborateur:innen in Lübeck befinden, allein gelassen. Ihre Existenz wird verschwiegen und erzeugt mitunter den unangenehmen Moment des „ebenso Opfers“ sein. Der Roman „Brockesstraße Beletage“ böte hingegen aufgrund der vielen Nebenhandlungen auch eine Möglichkeit das Thema unaufdringlich einzuweben.

Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem:

„Frau Curtz stand auf der Türschwelle, die Hände in der Kittelschürze vergraben. Sie legte ihr ein Paket mit besoffenen Jungfern in die Korbtasche. „Damit sie gleich etwas zu essen haben in der neuen Wohnung und … danke“ sie blickte ihr langanhaltend in die Augen, „… und nennen Sie mich doch Alma.“

[Information] Anette L. Dressler | Brockesstraße Beletage | 312 Seiten | Stroux Edition |ISBN 9783948065287 | 24 Euro

Danke an Birgit Böllinger und dem Verlag für das Rezensionsexemplar.