Monat: März 2023

Anette L. Dressler |Brockesstraße Beletage

„Es traf sie ins Mark, auf vergilbtem Papier mit blauer Tinte geschrieben ihre Identität besiegelt zu sehen, die sie, Frieda, auf ihre Eigenschaft als Flüchtling reduzierte.“

Die Lübeckerin Alma Curtz muss 1947 die von den Masuren geflüchtete Frieda Markuweit per Zwangszuweisung in ihre Wohnung aufnehmen. Beide Frauen teilen das Schicksal Witwe zu sein, teilen sich aber bis auf ihre neue Lebensrealität keine Gemeinsamkeiten. Alma ist zunächst sehr hart und ablehnend gegenüber Frieda, die sich jedoch Tag für Tag mehr wohl fühlt in ihrem halben Zimmer. Als sich Alma, die davon träumt wieder tanzen zu gehen und ihren Kurzwarenladen erneut zu öffnen, offenbart, weder lesen noch schreiben zu können, organisiert Frieda Schiefertafel und eine Fibel und die beiden Frauen kommen einander näher und können ein zartes Band der Freundschaft knüpfen. Frieda entdeckt die Stadt Lübeck für sich und freut sich, neue Kontakte zu haben, wie Cecile, die ebenso frankophil wie sie ist. Das aufstrebende Lübeck der 1940iger Jahre sowie die aufkeimende Hoffnung auf ein Deutschland ohne Nationalsozialismus prägen die Geschichte beider Frauen und ihrer Liebsten.

Anette L. Dressler legt mit „Brockessstraße Beletage“ einen Debütroman vor, der von Erzählungen ihrer Großeltern, Eltern und dem Freundeskreis der Familie gespeist ist. Die Spurensuche nach der Herkunft und dem Ankommen ihrer Familie in Schleswig- Holstein nach Ende des Zweiten Weltkrieges inspirierte sie zu diesem Roman. Dressler sucht nach unterschiedlichen Lebensverläufen, nach einer Sichtbarmachung einer Geschichte, die Frauen sonst vergisst. Alma Curtz und Frieda Markuweit dienen als Vorlage für die Themen, die mit der neuen Republik erstmals zur Sprache kommen: Die Familienrechtsreform, die erst 30 Jahre später das Schicksal vieler Frauen verändern wird. Erziehungsfragen, die sich abseits der schwarzen Pädagogik in der NS-Zeit bewegen. Bildung und Selbstständigkeit von Frauen, sowie erst Wahlen, in der mit der Wahl Konrad Adenauers ein Stück deutscher Geschichte festgehalten wird. Das Buch kreist dabei um die Löcher und Lücken, die der Nationalsozialismus hinterlassen hat, thematisiert ihn aber dabei kein einziges Mal. Lesende werden mit der Frage, wo sich die ganzen Befürworter:innen und Kollaborateur:innen in Lübeck befinden, allein gelassen. Ihre Existenz wird verschwiegen und erzeugt mitunter den unangenehmen Moment des „ebenso Opfers“ sein. Der Roman „Brockesstraße Beletage“ böte hingegen aufgrund der vielen Nebenhandlungen auch eine Möglichkeit das Thema unaufdringlich einzuweben.

Was der 300-Seiten-Roman auf jeden Fall leistet, ist ein sehr nahbarer Einblick in das Nachkriegsdeutschland in Bezug auf Alltäglichkeiten: Ein Mocca faux, hier des Öfteren Mukkefukk bezeichnet, hinterlässt ein Lächeln. Man erfreut sich über das Wissen um Nylonstrümpfe, Lebensmittelbeschaffung, Flohbeseitigung oder Ausgehmöglichkeiten der damaligen Zeit in Lübeck. Sehr sanft und verhalten wird die Annäherung zwischen den beiden Frauen erzählt und doch bietet sich ein Exempel für die Migration der Gegenwart – Fremdes wird irgendwann zu Vertrautem:

„Frau Curtz stand auf der Türschwelle, die Hände in der Kittelschürze vergraben. Sie legte ihr ein Paket mit besoffenen Jungfern in die Korbtasche. „Damit sie gleich etwas zu essen haben in der neuen Wohnung und … danke“ sie blickte ihr langanhaltend in die Augen, „… und nennen Sie mich doch Alma.“

[Information] Anette L. Dressler | Brockesstraße Beletage | 312 Seiten | Stroux Edition |ISBN 9783948065287 | 24 Euro

Danke an Birgit Böllinger und dem Verlag für das Rezensionsexemplar.

[rezension] Günter Neuwirth | Sturm über Triest

Aber irgendjemand hatte die Blechkiste sorgfältig in das Öltuch gewickelt, wodurch der Inhalt sicher vor Nässe geschützt war. Die Person hatte sich das genau überlegt und gewissenhaft gearbeitet. Bruno schaut sich noch mal um. Niemand war in der Nähe. Er war allein, also öffnete er die Blechkiste.

Als der Schiffsbauingenieur Gustav Lainer im November 1907 nachts vor einen Güterzug stürzt, wird Inspector Bruno Zabini mit der Klärung des rätselhaften Todesfalles beauftragt. In 16 Tagen (vom 3. November bis zum 18. November) überschlagen sich in diesem Roman die Ereignisse: Er ist im Gegensatz zu anderen Inspektoren nicht davon überzeugt, dass Lainer den Freitod gewählt hat, arbeitete er doch in einer Werft der k.u.k. Kriegsmarine, die mächtige Schlachtschiffe bauen. Bald wird klar, dass Lainer Kopien der geheimen Baupläne der neuen Generation an Geschütztürme für Schlachtschiffen gestohlen hat, und mehrere Agenten diverser Nationalitäten hinter ihm her gewesen sind. Bruno versucht mit seinen Verbindungen in die Oberschicht und zum Geheimdienst den Fall zu lösen. Dabei kommen ihm nicht nur kriminelle Querelen in den Weg, da mittlerweile ein Agentenkrieg in Triest tobt, sondern auch jene privater Natur.

Als Lesende merkt man sehr schnell, dass Günter Neuwirth lange recherchiert hat und sich sehr viel in die Geschichte der Stadt Triest eingelesen hat – die polyglotte Bevölkerung dieser Zeit wurde eingewebt, die historischen Plätze beschrieben. Man begleitet den Inspector, wie er mit der Elektrischen fährt, der Bahnhof in Triest und die Molen spielen eine große Rolle. Spätestens hier wird Leser:innen das Reisefieber packen.

Wer sich aber klischeehaft ein Triest im Sommer vorstellt, wird herb enttäuscht werden: Neuwirth hat den Roman in den Spätherbst angesetzt, als die große Bora vor der Tür steht und schließlich über die Stadt fegt. Das Triest 1907 ist kalt, es wird geheizt, es fällt Schnee. Die ersten Kapitel des Romans sind fordernd für Leser:innen, die die beiden Vorgängerromane ( 1. Band: „Dampfer ab Triest“; 2. Band:“Caffe in Triest“) nicht gelesen haben, da man freiheraus den Liebesverhältnissen des Bruno Zabini ausgesetzt wird: Er pflegt zwei Liebesbeziehungen zu zwei Frauen gleichzeitig, die voneinander wissen und einander freundschaftlich verbunden sind, sowie das offene Beziehungskonstrukt gutheißen.

Das vorab eingefügte Personenverzeichnis hilft bei der Orientierung durch das 500 Seiten starke Buch und erweist sich als enorm hilfreich, als die eigentliche Handlung beginnt. Eine historische Stadtkarte von Triest in der Klassenbroschur wäre auch großartig gewesen, würde man doch gern die Wege mit dem Finger nachgehen, die Bruno während seiner Ermittlungen so macht. Neuwirth lässt an vielen Stellen offen, ob die handelnde Akteure Feind oder Freund sind, und die Grenze ist oft sehr fließend. „Sturm über Triest“ erweist sich in der Hinsicht nicht nur als guter Kriminalroman, sondern auch als exzellenter Spionageroman. Die oft sehr detailverliebten Beschreibungen erweisen sich in dem Kontext leider oft als hinderlich, trüben sie immer wieder den Blick auf die eigentliche Handlung. Nicht alle Akteur:innen sind für die fortführende Handlung relevant (und erklären ihr Erscheinen nur, sofern sie im nächsten Folgeroman eine Rolle spielen) und hätten mit ihrer Streichung eine Straffung der Nebenhandlungen zugelassen. Zum Schluss hin nimmt die Geschichte aber immer mehr an Fahrt auf und zwingt förmlich zum Weiterlesen.

Neuwirth vermittelt aber einen sehr genauen Blick auf den Habitus und die Konventionen der Donaumonarchie, besonders jene der oberen, adeligen Schicht. Er beschreibt, wie der Alltag für Angestellte und Adelige aussah, man bekommt ein gutes Gespür für den Umgang mit Bediensteten damals oder der früheren Kindererziehung.

Besonders gut gelungen sind Neuwirth vor allem die Dialoge in diesem historischen Kriminalroman:

„Die erste ist eigentlich eine rhetorische Frage, denn wenn Ihr sie bejahen könntet, wärt Ihr nicht mehr in Triest, dennoch stelle ich sie. Habt ihr die Baupläne?“

„Nein.“

„Wie gesagt, es war eine rhetorische Frage.“
„Was ist ihre zweite Frage?“

Als Lesende bleibt einem nur eine weitere Frage offen, nämlich: „Wann kommt der nächste Triest-Roman?“

| Informationen | Sturm über Triest. Günter Neuwirth. 512 Seiten. Gmeiner Verlag. ISBN: 978-3839204184. Klappenbroschur. Buch 18,50 € / E-Book 13,99 €

Ein herzliches Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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