Kategorie: Rezensionen (Seite 8 von 13)

[rezension] AIBOHPHOBIA | Kurt Fleisch

Mit Aibohphobia legt Kurt Fleisch, so das Pseudonym des Autors, einen Roman im Briefstreitgespräch vor, der sich mit der Frage nach der Wirklichkeit beschäftigt. Dr. H., anerkannter Psychiater hat einen äußerst interessanten Patienten namens S., der trotz mehrmaliger Einweisung und starker Medikation an Wahnvorstellungen leidet. S. entpuppt sich als ideales Forschungsobjekt für Dr. H., der den Ursprung aller Geisteskrankheiten (sic!) entdeckt haben will.

Gekonnt gewitzt bewegt sich Fleisch zwischen Teilchenbeschleuniger und Zwangsmaschinen umher, baut Smart Bunker Automation, in der Alexa auf den Namen Trotzki hört, lässt Flucht ermöglichen und lässt dabei nie das Ziel aus den Augen, was denn nun Realität sei:

Aber es ist eine andere Realität, die wirklich ist.

Zwischen abgedruckten Rezepten für verschreibungspflichtige Medikation, wunderschönen, schwarz gestalteten Seiten mit Gehirnhälften zu je vier Kapiteln stößt man sich vielleicht an den veralteten Begrifflichkeiten wie geistige Störung, aber nie an der gelungenen Positionierung einer Metaebene im Text, der sich auch immer buchstäblich zeigt:

Etwas verbringe ich meine Zeit seit dem gestrigen Tage durchgehend bis jetzt, sogar während des Schreibens dieses Briefes, vor meinem Schlafzimmerspiegel, in dem ich mich zu meinem Überraschen nicht mehr sehen kann. Ich bin einfach verschwunden.

Die IT-Affinität des Autors zeigt sich am begeisterten Einfall sich selbst auflösender Programme, die in KERNEL PANIC: FATAL EXCEPTION enden und den Leser:innen unweigerlich ein memento mori der besonderen Art beschert: Was ist bleibt, wenn nichts mehr ist und wo befindet sich die Shell? Was ist nun mit der Hardware oder wie es Fleisch sagen würde:

Maschinen und Gehirne, was naturgemäß ein- und dasselbe ist.

Poetisch und dem Roman mehr Tempo verliehen, zwischen Diener, Reisen, Medikamentenbesorgungen rettet sich Fleisch aus der Misere mit einem Blick ins Universum:

Ich sehe tausend Sterne, die nicht mehr existieren, die längst verglüht und vernichtet sind.

Verschwinden und auftauchen, entfliehen und erscheinen lässt sich das Krankheitsbild einer kreativ angelegten Psychose erraten, die sich selbst in kräftige Bilder ein- und untermauert. Die intellektuell anspruchsvolle, zuweilen antiquierte Sprache macht nicht immer, aber meistens Spaß.

Aibohphobia ist übrigens die Angst vor Palindromen, also Wörter, die von vorne oder von hinten gelesen dasselbe ergeben. Eine gedankliche Zwangszuordnung lässt dieser Roman allerdings nicht zu. Kreative Geister werden nicht davor zurückscheuen, den Versuch zu starten, das Buch auch auf der letzten Seite zu beginnen: zu groß war die Freude, diese kreative Prosa nur einmal zu lesen.

[Information] Kurt Fleisch: AIBOHPHOBIA. Kremayr & Scheriau. 176 Seiten. ISBN:978-3-218-01310-9, 20 Euro.

[rezension] Langeweile // Isabella Feimer

Poetisch und überlegt, begibt sich Isabella Feimer auf die Suche nach der Langeweile. Ein gefürchtetes Unding, häufig gepaart mit Warten und Stille, passt es so gar nicht in eine Welt, die sich an Produktivität und Optimierung misst. Langeweile sucht sich im Dunkeln, wenn sie mit Wehmut und Isolation ein Gespann bildet und entdeckt sich im flirrenden Hell, wenn Mensch sich wonnig einer vorbeiziehenden Landschaft ergötzt.

Zwischen Buchdeckeln in taubengraulila (fast schon „käferkörpergrau“) erliest Mensch sich eine Recherche, dass das Gute und Schlechte im „acedia“ sucht (= Nichtstunwollen), ebenso wie sehnsüchtige Langeweile, die darin gipfelt, dass Frauen klischeehaft schwermütig aus dem Fenster sehen.

Die Autorin scheut die Auseinandersetzung mit der Langeweile nicht, sie setzt sich einem Selbstversuch nach einer Idee der Performancekünstlerin Marina Abramović aus. In Achtsamkeit übend, trennt sie zählend Reis von Linsen. Ein Versuch, zu erahnen, was das sein könnte, diese Langeweile, die wir zu wenig verspüren. Gelungen, wenn ein geschärfter Blick und eine komplette Koppelung zur Gegenwärtigkeit einzig übrigbleiben.

Langeweile erweist sich als komplexes, schwieriges Thema, das die Autorin ebenso literarisch verarbeitet:

BEFANGENHEIT UND EIN VERKÜMMERN NACH BEDEUTUNG UND NACH SINN, DAS SAGE ICH, EIN KÖRPER, DER SEINE MÄNGEL IST, FEDERLEICHT UND BLEISCHWER ZUGLEICH, UND EINE LANDSCHAFT, UNSICHER, OB SIE AUCH TATSÄCHLICH EINE LANDSCHAFT IST,

WEIL
EINSAM
SCHATTENLOS KONTURENFERN
WEIL
„SICK WITH LONELINESS“ WEIL ALLES NICHTS IST UND ALL SEEMS LOST.

Langeweile // Isabella Feimer S. 66

Auch die Pandemie wird zum Thema gemacht, in der sich viele in das Selbst zurückgeworfen sahen und ein von Lockdown-bestimmtes Leben führen mussten. Gehäuft zitatgeladen und auffällig der Poesie verschrieben, nimmt das Buch lyrikbegeistertes Lesepublikum auf eine anregend philosophische Reise mit. Der Weg schlängelt sich unbeirrt zwischen Boreout Syndrom, in dem sich Langeweile gern mit Aggression paart, der Frage, ob Tiere der Langeweile mächtig seien und dem lustvollen, schmerzlichen Gefühl der Leere.

Eine Frage wirft dieser Band unweigerlich auf:

Kann man ein Buch über Langeweile schreiben, ohne dass es langweilig zu lesen wird?

Die Antwort: Feimer kann. Songtexte von Iggy Pop und Lionel Richie fügen sich nahtlos an Zitate von Walter Benjamin, Martin Heidegger, Virginia Woolf oder Hannah Arendt und philosophisches Grundlagenwerk zum Thema. Langweilig wird die Lektüre jedenfalls nicht.

[Information] Isabella Feimer: Langeweile. Kremayr & Scheriau. 112 Seiten. ISBN: 978-3-218-01317-8, 18 Euro.

[rezension] Martin Peichl | Matthias Ledwinka – Gespenster zählen

Wie zählt man Gespenster, willst du wissen, ganz normal, sage ich, man fängt bei eins an, dann zwei und so weiter. Wie immer, wenn du meine Wohnung verlässt, nimmst du die Treppen, dem Lift traust du nicht, schon gar keine fünf Stockwerke lang.

Gespenster, das sind: gesammelte Fragmente verlorener Menschen, Glaubenssätze, Songtexte, Gedichtzeilen, Erinnerungen, entledigte Hoffnungen, verdrängte, aber nie vergessene Lieben: Immer die Frage, ob das ein Geist ist oder ob man ihn eventuell trinken kann.

Geist heißt hier eine präsente Anwesenheit der Abwesenheit, eine Fülle an Erinnerungen, an gedachte Zweisamkeiten in einer allgegenwärtigen Einsamkeit. Die Fotos sind stiller Begleiter dieser Alleinsamkeit: In blassen Farben gehalten stechen die grellen Thematiken dieses Buches hervor: ein Kennenlernen menschenloser, verlassener Orte. Überall sind leere Fahrzeuge, Geschäfte, Häuser, Züge, Straßen, Seen. Kurzum eine Sammlung von lost places, die ihre Trennung von Menschen und ihre Isolation stolz vor sich hertragen, genauso um ihre Vergessenheit und ihr Verschwinden zu dokumentieren; eine persönliche Ausstellung für zu Hause.

Es zollt selbstverständlich Tribut an die unlängst verstorbene Schriftstellerin Elfriede Mayröcker, die mit ihrem Buch „brütt oder die seufzenden Gärten“ oder mit „Paloma“ Eingang findet – eine literarische Ausnahmekünstlerin, der im ungleichen Ausmaß mehr Anklang bei deutschsprachigen, männlichen Schriftstellern findet als sonst eine Schriftstellerin. Umso erfreulicher, dass nun auch Spuren von Ingeborg Bachmann, Elfriede Gerstl oder Marlen Haushofer zu finden sind.

Während das ungewöhnliche Format auffallend und eindrucksvoll adrett und geordnet daherkommt, wird eine innere Ordnung nicht manifest, einige Bilder aus dem zweiten Buch „In einer komplizierten Beziehung mit Österreich“, finden hier erneut Eingang, und lesen sich wie eine Vorahnung auf „Gespenster zählen„:

Wir bleiben zurück als Gespenster als Scherenschnitt

In einer komplizierten Beziehung mit Österreich

Wenn man Peichls Namen im Katalog der Wiener Büchereien sucht, findet man zwangsläufig auf der ersten Seite das Handbuch der Psychotraumatologie; „Gespenster zählen“ ist zwingend traumatisch poetisch: es geht ums Anschauungen abfragen in künstlerisch literarischer Pose, es wird mehr gezeigt als gewollt als im Debütroman „Wie man Dinge repariert“. Es ist zeitgleich ein Stück Dorfliteratur genauso wie Erinnerungen an eine Stadt, die es in dieser Form nicht mehr gibt.

Das Buch, das diesmal auf Seitenzahlen verzichtet und Ordnung mit einer Bild und nummerierten Textabfolge herstellt, gestaltet sich mit weniger Leserausch als die letzten beiden Bücher, mehr als dokumentarisches Bereuen: Seelen bröckeln und vergeistern, auch eigenen Gedanken sind Gespenster und spuken im Kopf herum. Spürbar wird eine radikale Wehmut, die Liebe häufig mit Schmerz verbindet, und ein melancholischer Unterton, der die Roadtrips durch die Vergangenheit begleitet.

[Information]

Martin Peichl & Matthias Ledwinka: Gespenster zählen. Kremayr & Scheriau. 160 Seiten. durchgängig vierfärbig. ISBN978-3-218-01282-9. 22 Euro.

[rezension] Cartoons über Katzen

Im Buch „Cartoons über Katzen“ forschen berühmte Cartoonisten wie Ari Plikat, Michael Dufek, Tex Rubinowitz oder Dorthe Landschulz nach dem Alltag mit den wohl flauschigsten Mitbewohnern des Menschen.

Viele Cartoons in diesem Buch sind aus dem Leben gegriffen. Wer kennt es nicht, Katzen, die sich den Menschen als Futtersklaven Untertan machen oder sogar den Schlafplatz rauben. Zeichner für Zeichner reihen sich aneinander, in ihren unterschiedlichen Stilen und immer aufs kleine Detail achtend: Bettina Bexte, die die Dominanz von Katzen im privaten Bereich so sehr auf die Spitze treibt, dass menschliche Gäste unerwünscht sind.

Auch astreiner Kalauer hat in diesem Buch Platz. Wenn Katzen reden könnten und nach ihrem Wohnort gefragt werden würden, dann wäre die Antwort häufig „Miezhaus“, so wie es Heike Drewelow pointiert. Auch Lisa Semrad zeichnet die Klischees feinsäuberlich auf Papier, in bitterböser Manier, wenn sich Katzen neun Stricke aufhängen, um ja Suizid begehen zu können.

Dieses Buch enthält offenkundigen Humor, genauso wie schwarzen. Die Herausgeber Clemens Ettenauer und Johanna Bergmayr haben mit diesem Buch ein Sammelsurium geschaffen, das Fragen beantworte, die man sich so noch eigentlich gar nicht gestellt hat: Ob Katzen dem Alkohol zugeneigt wären, könnten Sie diesen trinken, Burnout haben können oder eine Affinität zu der Sendung mit der Maus haben.

Haptisch liegt das Buch gut in der Hand, wobei ein kleineres, handliches Format den Comics dienlicher gewesen wäre. Die gute Farbgebung im Druck der einzelnen Comics ist gut gelungen, genauso wie die Covergestaltung von Ursula Kothgasser & Lena Kothgasser-Haider:

Wer hungrige Katzen noch bewundern möchte, dem sei die dazugehörige Ausstellung im Wiener Museumsquartier zu empfehlen. Vom 11. August bis 30. Oktober kann man von Dienstag bis Sonntag, jeweils ab 11 Uhr bis 16 Uhr kostenlos die Ausstellung in der Galerie der komischen Künste besuchen.

Das Buch kann auf der Homepage des Verlages, der Seite der Komischen Künste erworben werden, genauso wie im Buchhandel. Ein ideales Geschenk für Katzenverehrer*innen und alle die es noch werden wollen. Spätestens nach der Lektüre kann man nicht anders, als die miauenden Vierbeiner zu lieben.

Information zur Ausstellung:

Dauer der Ausstellung: 11.August – 30. August 2021

Öffnungszeiten: 11.00 – 16.00 (dienstags – sonntags)

Ort: Galerie der Komischen Künste, Museumsplatz 1, 1070 Wien

Information zum Buch:

Clemens Ettenauer & Johanna Bergmayr (Hg.): Cartoons über Katzen, Holzbaumverlag, Hardcover, 96 Seiten, ISBN: 9783902980151, etwa 20 Euro.


Ich danke Clemens Ettenauer für die Bereitsstellung des Rezensionsexemplares.

[rezension] Kliteratur – Literatur über Regen, falsche Priester und Essig #6

Wer hat hier das Sagen? Oder was haben ein Strohmann und ein roter Hering mit der Debatte um die Meinungsfreiheit zu tun?

Eine öffentliche Debatte über Meinungsfreiheit, ein Dossier über Diskursverschiebung, die Frage, ob Schwarze Autor*innen nur von schwarzen Übersetzer*innen übersetzt werden dürfen, ist das eine, dem sich das Team rund um die Zeitschrift Kliteratur widmet. Das andere ist Literatur, die sich dem menschlichen Innenleben, der Alleinsamkeit im Zweisamen, der Ehrlichkeit familiärer Einsichten annimmt und schlussendlich Ordnung schafft, den diese Zeitschrift will viel, aber eines nicht: Chaos in den Köpfen.

Fein durchstrukturiert, säuberlich ausgewählt schichtet sich hier Essay auf Gedicht, Kurzgeschichte auf Kontextualisierung und Verortung. Das Heft ist eine Kunstausstellung, die man gerne durchwandert, ein paar Comics, wundervolle Illustrationen von Lina Ehrentraut und das schöne Layout begleiten nicht nur die Texte, sondern sind als eigenständige Kunst durchaus wahrzunehmen:

Die Herausgeber Philipp-Bo Franke & Jonas Linnebank verbinden gekonnt Ernst mit Spaß, eine gute und wichtige Einordnung findet sich vor allem im Text über die Strohmann – Argumente rund um die Übersetzung von Amanda Gorman, indem das Problem prägnant um die Suche nach der korrekten Verortung zu finden ist und den Verlag in die Verantwortung zu nehmen versucht, die häufig nach ökonomischen Gesichtspunkten eine Auswahl trifft. Die Wichtigkeit von Ökonomietransparenz zeigt sich ebenso in der Berichterstattung rund um die Finanzen der eigenen Zeitschrift. Ein mutiger und wichtiger Schritt, damit die Zahlen in der Kulturarbeit nicht immer nach unten korrigiert werden, egal, ob es nun Produkt oder Arbeit der Kunstschaffenden sei, die es zu wertschätzen gilt.

Besondere literarische Schätze werden hier ausgehoben, wie das Gedicht „nichts würde ich drum geben“ von Verena Schestak, die Unverhüllten Enthüllungen von Martina Lenz, lustig und scharfsinnig zugleich oder krass neue Schreibweisen, wie jene von Sönke Niebuhrs „Toxic Toys“:

Prägung/with a taste of a poison paradise/I’m addicted to you/Don’t you know you are toxic“/Mein Stock ist ein Feenzauberstab, mein Stock ist eine Pumpgun.

Wie sehr sich Kunst und Literatur verbinden lassen können, zeigt die Künstlerin Hatice Acikgoez, die mit dem Cut-Up Verfahren eine bissig böse Persiflage rund um das Thema Bewerbung auf das Papier knallt.

Kliteratur ist eine Zeitschrift, die sich aus Kunst und Literatur zusammensetzt, Gesellschaft und Gegenwart diskutiert und analysiert, sowie Fragen zu stellen, deren Antwort nicht einfach ist. Zweimal jährlich erscheint sie, mit dem Ziel Geschichten, Comics, Dialoge, Briefe, Shorties, Gedichte zu zeigen, prinzipiell alles, wo Text drauf steht und Inhalt drin steht.

Die Zeitschrift kann bei den Buchhändler*innen eures Vertrauens bestellt werden, oder online auf der Website der Kliteratur bzw. bei liberladen. Nähere Informationen zum Heft finden sich ebenso auf der Website.


Danke an Anna-Pia von der Redaktion für das Rezensionsexemplar <3

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