Autor: katkaesk

  • [rezension] Luzia – eine Kindheit zwischen zwei Kriegen | Daniel Stögerer

    [rezension] Luzia – eine Kindheit zwischen zwei Kriegen | Daniel Stögerer

    Luzia duckte sich unter einer Ohrfeige hinweg und rannte so schnell sie konnte die Stiege hinauf. Zwar hörte sie dabei Schritte hinter sich donnern, als sie aber im dritten Stock angelangt war und ihren Kopf zwischen die Geländestreben streckte, erblickte sie ihre Verfolgerin auf dem Podest zum ersten Stock. Diese stütze sich an der Wandtapete ab und keuchte dabei so laut, dass sie Luzia nicht einmal mehr hinterher fluchen konnte.

    Luzia, ein achtjähriges Pflegemädchen, wächst in der Zwischenkriegszeit beinahe mutterlos in der Wiener Troststraße auf. Sie erlebt die Armut hautnah mit und hat ein sehr distanziertes Verhältnis zu ihrer Pflegemutter Frau Tóth. Sie geht der garstigen Hausmeisterin und ihren Kindern aus dem Weg, versucht beinahe unsichtbar zu sein. Wenige schöne Momente erlebt Luzia mit dem Kater Sultan und ihrem Onkel Leo und dem Untermieter ihrer Pflegemutter, Liszt. Dieser nimmt Luzia häufig ins Gasthaus mit, wo dieser auf der Seite der Schutzbündler steht und alles andere als glücklich mit den Umständen von Schattendorf ist. Luzia bekommt die politischen Umstände hautnah mit, und doch bleibt ihr nur eine Frage dauerhaft im Kopf: Wer ist ihre Mutter?

    Als sie ihre Mutter das erste Mal sieht, ist sie enttäuscht, und wütend, dass sie wegegeben wurde. Luzia kann sich der Enttäuschung nicht entziehen, wird sie doch wieder von ihrer Mutter in der Obhut von Frau Tóth zurückgelassen. Bedauerlicherweise lüftet Luzia das Geheimnis ihrer Pflegemutter und gibt somit der bedrohlichen Hausmeisterin endlich eine die Gelegenheit, Frau Tòth loszuwerden:

    Frau Tóth blickte zu Luzia herüber. Keine Regung in ihrem Gesicht, doch die Augen – Luzia zuckte zurück. Wo sonst Eis funkelte, loderte es nun.

    Luzia muss ihre Pflegemutter verlassen und da auch ihre Mutter sie nicht will, in die Bucklige Welt zu einem Bauern geschickt. Luzia bekommt von den politischen Ereignissen in Wien nichts mit und fühlte sich fremd auf dem Land, und vermisst nun nicht nur mehr ihre Mutter, sondern auch die Stadt und ihr altes Leben…

    Stögerer hat mit diesem kurzen Roman ein Andenken an seine Urgroßmutter geschaffen. Die Authentizität liegt vor allem in der kargen Sprache, die sie sich der Armut und Ausweglosigkeit der 1920iger Jahre anschmiegt und besonders vorsichtig den Handlungen dieser Zeit nähert. Vieles kratzt die politischen Ereignisse an der Oberfläche an, so wie Kinder und Jugendliche dies wohl mitbekommen. Der Autor eröffnet einen Raum für große Kontextualisierungen, erzählt im kleinen Leben der Luzia, das große in der politischen Landschaft dieser Zeit. Die Erzählung wurde gut recherchiert, von den kredenzten Speisen bis hin zu den Zeitablaufen in Wien.

    Besonders zu erwähnen ist, dass dies nicht nur die Geschichte eines Kindes in den 1920igern ist, sondern ein Roman über verhinderte Lebensentwürfe von Frauen. Stögerer gelingt es, Frauen Geschichte zu geben, ihre Lebensumstände abseits ihres Fehlens in Geschichtsbüchern zu beschreiben.

    Vielleicht ist aber die wichtigste Frage in diesem Roman: Was ist Heimat? Und was passiert mit Menschen, die nie eine finden dürfen? Stögerers Heimat wird hoffentlich bald auch in der heimischen Literaturszene sein. Der Roman verspricht jedenfalls sehr viel in seinen vierzehn Kapitel.

  • [Rezension] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie

    [Rezension] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie

    Der Mensch muss aufhören, ein Mensch zu sein. Will der Mensch die Urnorm entdecken, muss er zur Urnorm werden. Wer die Urnorm kennt, begreift den Anfang des Universums.

    Frustriert, beruflich unterfordert bestreitet der Rechtsanwalt Anatol Altmann, als Strafverteidiger sein Leben. Sein unausgesprochenes Talent: Pen & Paper – Rollenspiele, sein Guilty Pleasure das Spiel „das verrückte Labyrinth“.

    Kurzum bekommt er die Möglichkeit, sein langweiliges Leben gegen ein aufregendes Leben in einer Fantasiewelt zu tauschen und seine Leidenschaften miteinander zu verbinden: Statt nur das Recht durchzusetzen, darf er am HGH, also am Höchsten Gerichtshof, volle Gerechtigkeit bewirken. Das HGH, das sich als magisches Tribunal entpuppt und in dem jegliche Rechtsauslegung möglich wird, verlangt von Altmann nur eines: sein irdisches Leben.

    Der Strafverteidiger, der sich in einer heftigen Sinnkrise befindet, spielt nun um sein Leben: Doch was ist volle Gerechtigkeit? Kann man den Menschen an sich zu gutem Sein verdonnern? Kann das Recht für Gerechtigkeit sprechen? Ab wann tritt Gerechtigkeit für alle ein?

    Altmann verhandelt dies nicht nur Spielzug für Spielzug am HGH, das die weltlichen Gesetze außer Kraft gesetzt hat, sondern auch in seinem Privatleben: In einem unmöglichen Liebesdreieck zwischen Hannes, Timea und Anatol sind die Würfel noch nicht komplett gefallen:

    „Wieder schwebt das unmögliche Dreieck auf Altmann zu und er zurück durch das rotierende Tor, dorthin, von wo beziehungsweise von wann er gekommen war.“

    Die Gerichtsakten verhandelt Anatol Altmann wie Pen und Paper Spiele. Mit Würfel, Stärken und Schwächen des Charakters, Eigenschaften wird in 10 Aktenstücken Gerechtigkeit in verschiedenen Situationen verhandelt. Der Würfel bleibt auch hier das Zufallselement. Wie viele Pen und Paper Spiele ist das Ende für den Lesenden nicht klar.  Anatol Altmann wird zum Dungeon Master in seinen eigenen Dungeons, er wird Kämpfer, Zauberer, Paladin. Besonders D&D Freunde werden an der Spielstruktur des Buches sehr viel Freude beim Lesen haben. Die nächsten Spielzüge sind unklar, Altmann läuft 10 statt 20 Entwicklungsstufen durch.

    Mit juristischem Feingefühl nähert sich Markus Grundtner immer näher dem Begriff der Gerechtigkeit. Er begibt sich tief in die indische Philosophie hinein und entwirft als weiteren Protagonistin Nyaya, eine personifizierte Regel. Das Nyaya wird für gewöhnlich als Diskussionswissenschaft angesehen und so kommt es, dass Altmann sehr häufig mit Nyaya debattiert.  E.T.A. Hoffmann diskutiert ebenso munter mit Altmann über zweihundert Seiten über Gerechtigkeit, ist er doch nicht nur für seine literarische Arbeit bekannt, sondern auch als Jurist tätig gewesen.

    Die unsichtbare Brücke schlägt Grundtner von E.T.A Hoffmann zu Neil Gaiman, die Geschichte liest sich ab und an wie eine dunkle Sandman-Welt, lässt auch aufgrund seiner humorvollen Ausgestaltung eine Ähnlichkeit zu Douglas Adams Dirk Gently’s Holistic Detective Agency zu. Altmann unternimmt Zeitreisen in seine eigene Vergangenheit und wagt Blicke in eine Vielzahl an möglichen Zukunftsszenarien:

    Altmann wischt sich über sein Gesicht, auf seinen Fingerkuppen klebte mitternachtsblaue Tinte. Immer mehr fiel herab, füllt das Grab auf. Der Tintenspiegel stieg an, bis Altmann Tinte an seinen Lippen spürte, sie aus seinem Mund prustete und sie bald gar in der Nase hatte. Als er nicht mehr atmen konnte, zogen sich die Momente ins Endlose hin, bis plötzlich der Stein hinter ihm nachgab und Altmann, als würde er durch den Kanal hinweggespült, zurück an seinem Platz im Großen Sitzungssaal landete.

    Rettungswürfe braucht Grundtner für dieses Buch keine. Er gewinnt Lesende allein mit der spannenden Thematik dieses Buches und vielleicht darfs auch danach gern eine Runde D&D sein.

    [Information] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie. Keiper Verlag. 260 Seiten. ISBN: 978-3-903575-22-6. 25 Euro.

  • [rezension] Johannes Wally // Was dazwischen kommt

    [rezension] Johannes Wally // Was dazwischen kommt

    Wie in einem Netz sind die Personen in diesem Roman miteinander verbunden: Im Zentrum steht der Anästhesist Haimo Wildner, der glaubt, dass er bei der Maturareise 1983 seinen besten Freund Karl Jesenký umgebracht hat. Besonders pikant daran ist, dass es eine Hassliebe zwischen dem herzkranken Karl und Wildner ist; häufig wird Wildner von seinem Freund erinnert, keinen Vater zu haben und verarmt aufwachsen zu müssen, während der Freund gut situiert ist und sich daher dem Mobbing gut und gerne diesbezüglich hingibt.

     Im Laufe seines Lebens löst sich Wildner von seiner Schuld und kann sein wahres Ich zeigen, indem er ein Aktmodel sein darf in Lauras Zeichenkurs; die Frau, die er seit langem liebt und ein gemeinsames Kind hat. Zu Beginn des Buches werden 23 Personen genannt, die mehr oder wichtig für die Geschichte sein sollen, die Entscheidung, welche Person tatsächlich bedeutend ist in diesem Geflecht an Personen, wird den Lesenden überlassen.  

    Wildner will zeigen wie er ist, seine Erzählung beginnt 2008 in Valetta. Dort ist er gerade auf Urlaub, man wird das Gefühl nicht los, dass er sich von seiner Freundin, die neun Jahre jünger ist, trennen will. Ein kurzes sexuelles Intermezzo mit einem jungen, maltesischen Mann wirft ihn zudem aus der Bahn.

    „Dass etwas gut war. Das war selten. Dass etwas zu gut war. Das kam öfter vor.“

    Auf der Rückreise begegnet er Sophie, die er nicht erkennt, aber die Schwester des Verstorbenen ist. Diese kann sich vom Tod des Bruders nicht lösen und sieht in fremden Gesichtern gerne das Antlitz ihres verstorbenen Bruders.

    Insgesamt spielt das Buch zu drei verschiedenen Zeitpunkten: Es erzählt ab 2008 die Begegnungen von Wildner, Sophie, Laura, sowie seinem Freund Götz. Es springt dann in das Jahr 2017, wo Pater Ignaz erzählt, der der Klassenvorstand von Wildner und dem Toten war. Ebenso wird eine weitere Perspektive eingeführt, die von Thomas erzählt, der freundschaftliche, womöglich amouröse Gefühle für Pater Ignaz hegt, und die beiden Hauptcharaktere kennt. Zum Schluss begibt sich das Buch in das Jahr 2019, wo erneut die Personen aus 2008 in irgendeiner Weise wieder aufeinandertreffen und etwas mehr von ihrem Geflecht preisgeben.

    Obwohl das Buch die Hintergründe des Todes versucht aus vielen Blickwinkeln zu beleuchten, leidet es unter einem Übermaß an Perspektiven, was die Lesbarkeit beeinträchtigt. Ohne das Register wäre es schwer gewesen, den Faden zu behalten. Weniger Blickwinkel würden dem Buch wahrscheinlich guttun und es zugänglicher machen.

    Hingegen ist es dem Autor Wally sehr gut gelungen die Puzzlestücke der Geschichte des Karl Jesenký in das Buch zu verstecken und sich beim Lesen ein Bild daraus basteln zu können, wenngleich es außerordentlicher Anstrengung erfordert.

    Wenig begeistert werden handlungsgetriebene Lesende wohl ebenso sein von der Tatsache, dass sich die Handlung des Buches hauptsächlich auf innere Monologe, Gedanken und Gefühle sowie Absichten und Erinnerungen der Charaktere konzentriert, während nur wenig tatsächliche Handlung stattfindet.

    Optisch begeistert der Roman vor allem durch die klare Strukturierung der Zeichensetzung im Buch und Aufteilung der Kapitel. Das Cover des Buches hat einen etwas altmodischen Charme, der an die Ästhetik des Diogenes Verlags erinnert. Es vermittelt einen Hauch von Tradition und Klassik, was sicherlich einige Leser anspricht.

    Besonders faszinierend wird man die Figur der Sophie finden, die mit ihrer emanzipierten Persönlichkeit und ihrem starken Charakter die eigentliche Hauptrolle des Buches zu sein scheint. Die Intention, den Biografien eine Rahmung durch politische Ereignisse zu geben, wird bei politikbegeisterten Menschen Anklang finden, sofern man dazu tendiert, seine Biografie an einschneidenden Erlebnissen festzumachen. Es zeigt auf jeden Fall die berufliche Schwerpunktsetzung des Autors, die sich viel mit politischen Konflikten im Text auseinandersetzt.

    Information:  Johannes Wally. Was dazwischen kommt. Edition Keiper. 978-3-903575-10-3. 252 Seiten. 24 Euro.