Kategorie: Allgemein (Seite 7 von 10)

Hundertsechsundzwanzig Stunden.

Wenn du weg bist, sieht alles verwaschen aus. Die Wohnung, in der wir leben, der Himmel, wie ein Himmel von Manet, wie rote Frauen von Garache. Da ist diese, deine braune Tasche auf dem Bett, ein Teller voller Krümel, deine Schuhe. Da ist dein Durst letzter Nacht noch sichtbar, eine ausgetrunkene Wasserflasche, womöglich eine zweite unter dem Bett. Da ist das Fenster, das von letzter Nacht erzählt, als man betrunkene Jugendliche vorbeilaufen hörte und um vier Uhr morgens die Müllabfuhr. Da ist irgendwo über, unter, neben dir Musik aus den Neunzigern, die jeder kennt und niemand mehr hört. Halbschlaf, tiefer Schlaf, Viertelschlaf, auf der einen und der anderen Seiten, ein guter Gedanke, Albtraum, Sehnsucht nach Morgen. Es ist leer, wenn du gehst, und doch so voll, wenn du kommst. Zahnbürste, Seife, Zahnbürste, rotes Handtuch, irgendwo ein blaues, Löffel, Tisch, Tüte, Bett. Das Wetter meint es gut mit dir, und doch ist immer wieder Weltuntergang, wenn du gehst. Heute ist das Wetter blau, rot und lila, und manchmal ein bisschen weiß, von den Wolken, die mehr gesehen haben, als ich an manchen Tagen. Überall nichts, überall Welt, hier ein Universum und da ein Planet. Planetenbahn, Autobahn, Bahnhaltestelle.

Du magst Bahnhaltestellen, aber nur wenn sie ästhetisch sind. Alt und ästhetisch oder neu und ästhetisch, es spielt keine Rolle. Ästhetisch und echt. Aber das Echte lässt sich so schlecht finden, sagst du immer. Eingepfercht in einem Lebensgefühl, das so gar nicht passt. Wir sehen so ästhetisch aus, wenn wir in den Park gehen, auf den Kinderspielplatz, Schaukel an Schaukel mit Bier, keine Kinder, viele Kinder, wir sind Kinder. Hast du dich gefragt, was ich mich gefragt hab. Hast du was gesagt, und ja und ja und nein und nein und hundertmal ein Brummen und Okay.

Heute ist Postkartenwetter, eine Stadt, dahinter ein Feld. Bist du schon lange wach und ein Mhm. Deine Stimme zerläuft, sie ist anders als sonst, tiefer, sonorer, wie ein Haselnusskaffee aus dem Automaten. Ein Schulterzucken auf deine Frage, ein Blick in deine Richtung, ein Alles und ein Nichts, es bleibt beim Nichts. Ob sich heute schon wer gemeldet hat, zwei Anrufe, drei Nachrichten, auf deinem Telefon weiß ich nicht, schau selbst. Da ein Anruf, da eine Nachricht, verschlafene Augen, verwaschener Mund, ein Mundwinkel zieht sich schwach nach oben, der andere noch neutral, er entscheidet noch, was für ein Tag heute wird.

Heute ist Markt, ich gehe alleine, du schläfst. Lachsfarbene Häuser, gelbe Häuser, kaputte Fassaden, Fassade, Hülle, Oberfläche, Maske, mein Gesicht. Sonnenschein, verhalten, eine Sommersprosse, dann die nächste Sommersprosse, Fischmarkt, mehr Muscheln als Fische. Zuviel Geruch für den Morgen, da eine Bäckerei, Post, eierschalenfarbene Fassaden, kein Kaffee, du schläfst.

126 Stunden bis alles wieder anders ist. Heute lachst du viel, du lachst heute so als wärst du der Herbst. Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Es ist nun dein Lachen. Du bist schön anzusehen, wenn du lachst, in dein Telefon hinein, eine Welt, du bist mit Kopfhörern verbunden. Manchmal bist du eine eigene Welt, umgedreht zur Wand, zwischen Buch und Musik oder Fernsehen. In 119 Stunden wirst du schlafen gehen, von einer Welt träumen, die du zuvor im Kino gesehen hast. Schnelle Welt, gute Welt.

Ob 126 Stunden genug sind, habe ich mich fragen hören, in den Innenhof hinein. Ob du dann bei mir bleibst, trotz allem, habe ich mich schweigen hören. Innenhof, rote Hängematte, zwei Kammern, frische Wäsche, schlechte Musik über den anderen Innenhof, stöhnende Frau von Osten, Schatten, Holzbank, Fragen.

Ich habe dir nie erzählen können, wie das ist, wenn du gehst. Da ist dein Ladekabel, und es ist das, woran ich mich klammere. Dass du da bleibst, weil dein Ladekabel da ist und deine Bücher und du gehst nicht ohne deine Bücher. Der Raum riecht nach dir, er riecht nach deinen Hoffnungen, deinen ungesagten Gefühlsregungen. Ich will dir etwas hinterlassen. Etwas, dass du hast, wenn ich gehe. Ein Foto. Auf deiner Kamera. Ich fotografiere mich. Im Spiegel. Ernst. Angestrengt. Du sagst ich schaue angestrengt, ich sage, du siehst müde aus. Wir sind müde und angestrengt. Müde des Lebens, angestrengt vom gegenseitigem Ablösen. Du fehlst.

Ich bin zurück und das Wetter ist anderswo prächtig habe ich dich sagen hören. Ich bin noch da will ich mich sagen hören. Dem Drang widerstehen, wegzulaufen, wir besteigen Berge. Im Garten hier ist es schön, sagst du mir und du willst auch ein Haus mit Garten und malen und existieren. Ich will auch ein Haus mit Garten, aber lieber eine Altbauwohnung mit Balkon, wir verlaufen konträr.

Bist du noch wach, bist du noch da, schweige ich dir im Schlaf entgegen. Im Mondlicht das angekettete Fahrrad bewundern, die ganze Woche stand es da. Du hast es auch bemerkt. Ich liege alleine, du bist nicht da, du bist nicht wach. Du bist fern, weiter als sonst. Ich höre dich reden und träumen, die Welt dort ist soviel schöner als hier. Ich werde dir nicht fehlen.

Bildnachweis.

[Sterbenswörtchen]: Jennifer Düing.

Wer sind die großartigen Autor/-innen, die hie und da ein Sterbenswörtchen verlieren? Mein Gast für den Monat April ist Jennifer Düing, vielen bekannt als @nachtblau und @goldmomente von Twitter. Jennifer bezeichnet sich selbst als Poesietwitterin und mag Kultur, Ballett und kleine, wunderbare, subtile Dinge. Zurzeit arbeitet Jennifer beim Festspielhaus Baden-Baden als Internetmanagerin – der Kunst den Vorrang gegeben, ist Jennifer aber ebenso eine grandiose Sozialarbeiterin mit viel Herz.  Ihr derzeitiges Projekt Postkartenautorin liegt ihr sehr am Herzen – schon bald wird es ein Poesie-Postkarten-Abo geben. Menschen, die so sehr am Leben hängen, so viele Farben finden für all die Dinge, die man später schmerzlich vermisst, für den täglichen Optimismus, den man liest, müssen auch zum Thema Tod und Sterben befragt werden:

 

Was bedeutet Tod für dein Schreiben?

Wenn ich an den Tod denke, kommt mir oft die Zeit in den Sinn, als ich anfing auf Twitter zu schreiben. Damals arbeitete ich mit alten Menschen. Das war eine schöne, wenn auch fordernde Arbeit, besonders fordernd war die Allgegenwärtigkeit des Todes.

Einer meiner Lieblingstweets schrieb ich damals:

Heut lernte ich eine Frau kennen, die auf alles eine Antwort hatte: ‘Nein.’

Wenige Tage später starb diese Frau, die sich zuvor nicht mehr anders als mit diesem einem Wort ausdrücken konnte, das aber alles bedeuten konnte.

Schreiben bedeutet für mich in diesem Zusammenhang erinnern. Erinnern, an den Menschen, den ich traf, der jetzt nicht mehr da ist.


Wie politisch ist der Tod?
Für mich ist der Tod weniger ein politisches Thema, als vielmehr ein persönliches. Der Tod hat für den Mensch, der gegangen ist, keine Bedeutung mehr. Nur für die, die noch leben, hat es große Auswirkungen. Sie müssen damit umgehen. Sie müssen damit leben, dass nun jemand fehlt. Und dieser Prozess des Umgangs ist sehr persönlich.

Der Tod sollte allerdings ethisch sein. Wenn er nicht ethisch stattfindet, seit es durch Gewalt oder Unterlassung von Hilfe, dann ist auch der Tod politisch.

 

Wie wirkt der Tod in sozialen Medien?
Der Umgang mit dem Tod wandelt sich, insbesondere die Art zu trauern. Es gibt Menschen, die ich durch Twitter kennenlernte und so an ihrem Leben teilhaben kann und manchmal auch ihren Tod vernahm. Was ich merke, ist, dass mir der Abschied schwerer fällt. Das Facebook-Profil wird immer wieder beschrieben. Verlinkungen tauchen auf. Tweets werden retweetet. Dadurch bleibt der Verlust des Menschen allgegenwärtig und das Verblassen der Erinnerungen ziemlich schwer.

 

Was bleibt von Menschen, wenn sie nicht mehr sind?

Was bleibt ist immer die Erinnerung. Erinnerungen an Begegnungen, Gespräche, Berührungen. Erinnerungen, ans gemeinsames Lachen und Kuchen essen. Erinnerungen, an die letzten Worte, die gewechselt wurden. Und was bleibt bin ich selbst, der eben diese Erinnerungen am Leben erhalten kann.

 

Was bleibt, wenn du gehst? Was geht, wenn du bleibst?

Alles bleibt, wenn ich gehe – nur nicht ich. Meine Worte bleiben. Die Farben bleiben. Die Menschen bleiben. Selbst meine Liebe bleibt.

Was geht, ist die Zukunft. Die gibt es dann nicht mehr.

 

Welches Kunstwerk (Buch, Musik, Film, Text, Bild) drückt den Tod am besten aus?
Ein Film, der mich immer an den Tod erinnert ist “Hinter dem Horizont”. Eine Frau leidet an Depressionen, bringt sich selbst um und landet dann in der Hölle, welches ein von ihr gemaltes Bild ist. Ihr Mann, der sie über alles liebt, möchte sie retten und begibt sich auf die Suche nach ihr, und obwohl es niemand glaubt, findet er sie. Ihre Welt ist so verdunkelt durch Selbsthass, dass es ihr nicht mehr möglich ist, ihn zu erkennen. Erst durch die Erinnerungen an gemeinsame Erlebnisse dringt er zu ihr durch – und kann sie so aus der Hölle begleiten.

Ja, etwas plakativ, jedoch machte mir der Film sehr deutlich welche Rolle Erinnerungen und gemeinsame Erlebnisse im Leben spielen. Es ist das, was verbindet – über den Tod hinaus.

 

Wie viele Tode kann man sterben?
“Da bin ich 1.000 Tode gestorben” wie häufig habe ich das schon gesagt, wenngleich ich weiß, dass es nur einen Tod gibt, den ich irgendwann sterben werde. Und doch, kleine Tode bin ich schon oft gestorben, nicht nur, wenn ich Angst überwunden habe, auch wenn ich etwas hinter mir ließ, ganz besonders, wenn es mir viel bedeutet hat. Denn das Sterben ist am Ende ein großes Loslassen.

 

Welchen Zustand hat der Tod?

Der Tod ist endlich. Das Ende vom Leben. Tod ist der Übergang, in etwas, was nicht mehr ist.

 

Inwieweit beeinflusst der Glaube/Nichtglaube den Tod?
Als ich mit den alten Damen und Herren gearbeitet habe, spielte Glaube oft eine Rolle. Sie erzählten Geschichten aus früheren Zeiten und schlossen mit dem Leben langsam ab. Dieses Reden half, denn offene Themen konnte so Ruhe finden. Und das waren die Momente, in denen Glaube half, zu glauben, dass das alles Sinn macht, dass das Leben Sinn hat und dass es einen Plan gibt – vielleicht auch über den Tod hinaus. Manche Menschen beruhigte das.

 

Was bedürfe einer Änderung in der Welt bevor man geht?

Ganz persönlich gesehen ist für mich wichtig, am Abend ins Bett zu gehen und zu wissen und zu fühlen, dass das ein Tag war, der gut war, so wie er war. Natürlich ist das nicht tagtäglich möglich und doch habe ich mir gesagt, dass die Tage weniger Alltag und mehr Leben sein sollte. Wie das Leben zu füllen ist, muss allerdings jeder für sich beantworten. Und wenn jeder für sich sein Leben so gestaltet, dass er damit zufrieden ist, sind wir schon ein ganzes Stück weiter diese Welt lebenswert zu machen.

 

 

Danke für das Interview, Jennifer!

 

Jennifer im Internet: Postkartenautorin / Postkartenautorin auf Instagram / twitter /  Postkartenautorin auf facebook / Nachtblau – Twitter

Bist du noch bei mir
oder fackelst du andere an
mit deinem Lächeln
magst du Bier
oder vom Leben kosten?
Bring lieber den Wein mit
und ich die Geschichten
mal den Mond an
oder die leeren Wände
braten wir uns Fische
bevor sie ostwärts gehen

Wirst du noch bei mir
oder rennst du lieber weg
mit deinen Augen
magst du glühen
oder lieber gleich verbrennen?
Ich bring mich mit
ich hab mich zu verschenken
Menschen, das sind alles Tonnen
für Gefühle, Angst und Bier
laufen wir einfach weg
es wird uns nichts geschehen

Liegst du noch bei mir
oder schläfst du lieber weg
mit deinen Träumen
magst du erzählen
oder lieber schreien?
Bringen wir Hoffnung mit
und bitte Geduld von den Eseln
was kann uns schon passieren
bloß Momente sind unendlich
nimm meine bloß meine Hand
dann werden wir was erleben

BILDQUELLE

Stell´ den Salzstreuer
über den Pefferstreuer
und umgekehrt
pflanz´doch Worte ein
oder Briefe
pack mir ein Wunder ein
und gib’s mir mit auf die Reise
verbau mir alles
mit Sicherheiten
und links und rechts
zählen wir Leberflecke
zeigen Narben
schmieren sie als hässliche Bilder
an die Wand
nimm einen Bleistift
streich doch die Ängste durch
aus deinem Leben
greif ich mir die Gedichte
und die Ungewissheiten
doppelter Wortwert
bei Herzverzehrung
Planbruchstellen
eingeschlossen
am Leben drehen
wie am Lautsprecherknopf
was fragst du mich
ob wir Lieder oder Liebe
hören.

BILDQUELLE

Orangenblüten oder: Eine Geschichte übers Altern.

Ich schreibe dir. Das tue ich, weil ich gerade auf dich warte. Ich schreibe dir. Das tue ich, weil ich weiß, dass du das lesen könntest oder auch nicht, wenn dieses Blatt Papier wie des öfteren zerknüllt in der Tasche landet. Es ist schön hier, ich mag die Landschaft, es war gut, dass wir weggefahren sind, weg von dem Alltagsgrau, dass uns immer und immer wieder einholte und dass uns schlussendlich hier her gebracht hatte. Mein Blick wandert umher und ständig entdecke ich Neues, Wundervolles, das mich ins Staunen geraten lässt und diese großartige Faszination ausübt, dass man diese Kribbeln spürt, als hätte man sich soeben neu verliebt. Hast du die in Kalk getünchten Häuser gesehen? Es brennt in den Augen, die Häuser sind so strahlend weiß, doch ich mag es, es ist besser als das Alltagsgrau.

Das Blau sticht mir ins Auge, mein ganzes Leben hatte ich noch nie so blaues Meer gesehen, obwohl ich schon so oft am Meer war, und es jetzt wohl zwei Dutzend Reisen ans Meer gewesen sein mögen. Ich habe das leider mit dem Alter vergessen. An der Küste ist es so wunderbar türkis und es wird so kräftig dunkelblau, je näher man in den Horizont blickt. Es fällt mir schwer, die Schiffe draußen am Meer zu entdecken, doch die Segler im Hafen scheinen glücklich zu sein, so wie wir damals, als wir unseren ersten Segelurlaub gemacht hatten. Es riecht hier so wunderbar nach Meer! Ich liebe diesen Duft so sehr. Das Salz in der Nase sticht etwas und mir fällt wieder ein, dass du immer nach Meer gerochen hast. Ich kenne dich schon so lange, deine Haare rochen immer nach Meer, wenn wir langsam in unsere Träume versunken waren. Ich habe dann immer die Wellen gehört, die manchmal sanft, manchmal aufbrausend ihren Besuch auf dem Strand abstatteten und alsbald wieder ihre Heimkehr verkündeten. Überall hatten wir Bilder vom Meer an die Wand gehängt, manchmal fanden wir das Leben so großartig, wir schrieben uns gegenseitig Briefe und verschickten sie als Flaschenpost. Wir hatten das Meer, das Meer war die Freiheit, das Vermissen, der Ort unserer Hoffnung. So oft hatten wir das Meer vermisst, die Bilder stimmten uns traurig, sobald wir nicht bei ihm sein konnten. Sobald wir es nicht mehr ausgehalten haben, hatten wir unsere Koffer gepackt und wir zogen los. Einen gepackten Koffer hatten wir immer gepackt, immer bereit die Welt zu erkunden. Mittlerweile haben wir einen Koffer voll von Fotografien, immer bereit die Welt der Erinnerungen zu erkunden. Unsere Erinnerungen machten bereits einen Großteil unseres Lebens aus, uns ist ungewiss, wie viele Erinnerungen wir noch in diesen verstaubten Koffer packen können, ich hoffe doch, es werden noch ein paar.

Ich hatte vorhin meine Augen geschlossen, weil es so wunderbar hier riecht. Die Orangenblüten haben ausgetrieben, durch die ganze Stadt zieht ein sanfter Orangenduft von den Blüten, die Menschen scheinen soviel sanfter deswegen. Ich spüre gerade, wie die Sonne auf meiner Haut tanzt. Die kleinen fast durchsichtigen Härchen im Nacken sträuben sich, ein sanfter Westwind weht darüber, mir ist nicht kalt, das erste Mal in diesem Jahr.Es fällt mir in diesem Augenblick ein, dass der Westwind Zephyr genannt wird, ich mag das Wort sehr, weißt du? Vor Jahren haben wir damals ein Freiluftkonzert besucht, wir hörten Vivaldis Le quattro stagioni, im ersten Satz von L’Estate war dieses Wort aufgetaucht, ein Zephyr, der vom Nordwind Boréas durcheinander gewirbelt wurde, ein Gewitter, dass darauf hin im Presto Teil entsteht. Die Winde wehten immer, manchmal waren sie wie einer dieser ersten Frühlingswinde, manchmal tobend wie jene Winde, die Gewitter brachten, aber wir lernten mit den Winden zu leben, bist du nicht der Ansicht?

Ach, wie großartig, ich liebe diesen Orangeblütenduft! Ich würde ihn so gerne mit nach Hause nehmen, weißt du? In unser Haus würde so ein Duft ganz gut passen. Wir haben doch ohnehin Erinnerungen darin aufgenommen, dieser Duft würde gewiss nicht stören. Auf dem Treppenaufgang haben wir die ganzen Postkarten an die Wand geklebt, die wir uns gegenseitig immer schickten, als wir alleine auf Reisen waren. Im Wohnzimmer steht unsere Truhe, wo wir allerlei Erinnerungen aufbewahren. Du hattest damals damit angefangen, aus jedem Land ein Buch in der Landessprache mitzunehmen, auch wenn du es nicht lesen konntest, es war dir wichtig gewesen, etwas zu haben, was dich etwas an die verstrichene Zeit erinnert. Dafür achte ich dich sehr, ich habe dich immer geachtet, auch wenn uns das Alltagsgrau manchmal wie eine dicke, staubige Steppdecke eingehüllt hatte. Ich hatte in die Truhe allerlei Polaroid Fotografien, alte Dias, Bleistifte und das Buch mit den getrocknete Blumen hinein getan. Aus jedem Land habe ich eine Blume mitgenommen, sie waren haltbar gemacht worden, und doch so zerbrechlich, wie die Erinnerungen, die wir an diese Reisen hatte, aber langsam vergessen würden. Ich hätte wohl mindestens schon die Hälfte vergessen, würde ich dich nicht haben, wir tragen unsere Erinnerungen gemeinsam und erzählen sie uns an den verregneten Nachmittagen, wenn wir bei Tee zusammensitzen.

Hier ist alles so voll von diesem wunderbaren Leben, hier stört mich der Lärm nicht, es ist angenehmer Lärm. Menschen führen Konversationen in einer Sprache, die ich nicht verstehe, aber es ist mir egal, weil ich weiß, dass du bald kommen wirst, und wir uns dann über deinen kleinen Ausflug unterhalten werden. Es tut gut, dass so viele Menschen die Stadt beleben, ich fühle mich so erfrischt. Schon lange habe ich mich nicht so jung gefühlt. Vielen Dank dafür, dass du mich einfach entführt hast und ich nun da sitzen darf. Mein Kaffee duftet gut, er ist frisch gemahlen, er kühlt langsam aus und bald werde ich ihn trinken können. Meine Vorliebe für Kaffee hast du nie ganz verstanden, du hattest Angst, dass ich bald sterben würde, würde ich weiterhin soviel Kaffee trinke. Dir zuliebe trinke ich jetzt weniger Kaffee, aber ich muss dir gestehen, heimlich, wenn du nicht anwesend bist, trinke ich dann doch manchmal etwas mehr. Vor dir würde ich das jedoch nicht zugeben, ich will nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst. Ich habe vergessen, dir zu sagen: Die nette Frau von gestern Abend hat mir gerade Marmelade vorbeigebracht und bald werde ich sie verkostet, aber ich möchte damit auf dich warten. Du bist schon so lange weg, ich kann es nicht erwarten, bist du wieder kommst.

Du hast mir einen Bildband dagelassen, damit ich mich nicht langweile. Es sind kunstvolle Bilder darin enthalten, die besten von Gauguin, Cézanne, Seurat und Toulouse-Lautrec, manchmal vereinzelt Bilder von Sérusier und Vuillard. Mit Bleistift hast du deine Lieblingsbilder am Rand vorsichtig gekennzeichnet, so wie Edouard Vuillards La liseuse von 1910. Du magst die alte Frau, die ein kleines Büchlein gerade liest, das Bild wirkt so ruhig und angenehm. Ganz oft hast du dir auch das Bild Fleuve sous les arbres, Martinique von Gauguin angesehen, die Seite hat bereits einen Riss am oberen Ende bekommen. Dein Leben war immer voll von Bildern und Notizen, von Gedanken und Worten, die andere gesagt hatten. Vorhin habe ich gelesen, dass Renoir diese wundertolle Umgebung als seine Wahlheimat deklariert hatte, wir müssen uns das aufschreiben, damit wir zuhause etwas erzählen können. Bei meinem Spaziergang vorhin habe ich auch Postkarten mit Motiven von Henri Matisse entdeckt, wir sollten vor unserer Abreise doch das Musee Matisse de Nice mit unserer Anwesenheit beehren, das wäre großartig, meinst du nicht?

Manchmal wünschte ich, ich wäre noch so albern, wie die Jugend, die ich gerade beobachte, wie sie tatsächlich schwimmen geht, obwohl das Wasser gerade mal 16 Grad aufweisen kann. Was waren wir manchmal albern! Gut, dass wir das Leben nie so ernst genommen haben, lange hätten wir es sonst nicht ausgehalten. Die guten Witze haben wir uns gemerkt, die schlechten Scherze, die uns das Leben gespielt hat, haben wir unter den Teppich gekehrt, der in unserem Wohnzimmer liegt. Gertrude Arndt wäre wohl nicht sonderlich erheitert, wenn sie wüsste, dass schlechte Scherze jetzt da beheimatet sind. Sie kann von Glück reden, dass das ein Teppich ist, der nur dem von Gropius´ Direktion gleicht.

Gerade bin ich noch in Versuchung, erneut eine Tasse Kaffee zu ordern, aber ich habe das Gefühl, dass du bald kommst, also warte ich auf dich. Ich warte so sehr auf dich, und du fehlst mir, sobald ich dich nicht mehr sehe. Das war schon immer so, seit ich dich kenne. Mit dir habe ich das Warten gelernt. So oft habe ich dich auf gewartet, deine Reisen waren oft ungewiss, und ich habe warten müssen, ob es mir gepasst hatte oder nicht, aber mein Magen hat sich immer zusammengezogen, so voller Freude war ich, wenn du wieder gekommen bist. Du hast mir nie gesagt, wie es dir mit dem Warten erging, bis heute lächelst du verschmilzt, wenn ich dich Dinge frage, die du mir nie sagen würdest. Aber du musst das Warten auch gemocht haben, sonst wären nie so viele Jahre ins Land gezogen, das Warten war für dich wohl eine leichtere Übung als dies für mich immer war. Es ist wie heute, als ich dich gerade am Straßenanfang erkennen kann, du hast frisches Brot mitgebracht und eine Tasche, die voll mit neuen Büchern gefüllt ist. Dein Gang ist nicht mehr so stolz, aber stattlich schreitest du deines Weges, charmant lächelst du und machst Menschen auf deinem Weg Komplimente. Du lachst gelassen in dich hinein, du hast wohl ein gutes Erlebnis gehabt, dass du mir alsbald erzählen wirst. Ich freue mich so darauf! Dein Buch habe ich zugeschlagen, ich sehe dir lieber dabei zu, wie du lachend auf mich zukommst, du siehst noch immer so gut aus, du bist durch deine Falten immer nur interessanter für mich geworden. Nicht einmal in den vielen Jahren, kam mir in den Sinn, jemand anderen so zu bewundern und gern anzusehen wie dich. Auch darob hast oft geschwiegen, aber dein Leben lang hast du mich dabei beobachtet, wie ich meine langen Haare kämme. Verstohlen aus den Augenwinkeln habe ich dich betrachtet, du warst felsenfest der Überzeugung, ich würde deine Beobachtungen nicht mitbekommen. Was für ein Irrtum deinerseits! Auch ich muss meine Mundwinkel leicht nach oben ziehen, ich liebe es, dich anzulächeln. Mein Warten hat wohl jetzt ein Ende, weil du bald da sein wirst. Machs gut! Wir sehen uns gleich.

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