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  • [rezension] Stammzellen // Alina Lindermuth

    [rezension] Stammzellen // Alina Lindermuth

    „Vielleicht sind wir einfach zu blöd, als Menschen, um so zu leben, dass es gut für uns ist. Und die Natur zeigt uns das auf ihre Art. Vielleicht sogar ohne Intention, vielleicht ist es wirklich einfach die Summe allen Lebens auf der Welt, das sich zusammentut, biochemisch, irgendwie auf Atomebene, vielleicht ist es ein logischer, völliger nächster Schritt, halt ohne Menschen, wir  so unkollegial waren die letzten paar Hundert Jahre.“

    In Alina Lindermuths Roman „Stammzellen“ verschwimmen die Grenzen von Mensch und Umwelt deutlich, eine Welt literarisch, dystopisch, poetisch und bedrohlich zugleich baut sich auf, die Lesende zuletzt vor die Frage stellt: Was darf der Mensch?

    Die Protagonist:innen Ronja und Elio, die sich zu Beginn des Romans unsterblich ineinander verlieben und vereint in ihrer Liebe zur Natur sind, sehen sich mit einem Phänomen konfrontiert, dessen Lösung auf sich warten lässt: Menschen erkranken plötzlich an Dendrose, sie verwandeln sich also langsam zu Bäumen. Der Vorgang der Dendrose kann weder gestoppt noch rückgängig gemacht werden.

    „Wie es sich wohl anfühlt, fragt sie sich. Ob man wirklich nichts davon spürt? Ob man einfach in den Zustand übergeht? Oder ob man doch stirbt?

    Diese Metamorphose von Mensch zur Pflanze dient als Steilvorlage, um die unwiderlegbare Symbiose zwischen den Menschen und der Umwelt zu begreifen. Lindermuth stellt rhetorisch die Fragen nach den Auswirkungen des Klimawandels: Wie wird Politik, Wirtschaft und Gesellschaft auf Krankheiten reagieren, die aus dem Klimawandel resultieren? Die potentiellen Risse beleuchtet Lindermuth auf drei Ebenen: der persönlichen, als auch der nationalen und globalen Ebene.

    Schnell fühlt man sich an das Buch „Die Stadt der Blinden“ von José Saramago erinnert, wo eine plötzliche Epidemie zur Erblindung der Gesellschaft führt und ebenjene ins Chaos stürzt. Beide Werke fordern die Lesenden auf, über die Fragilität menschlicher Existenz und über die Abhängigkeit des Menschen von der Natur nachzudenken. Lindermuth folgt der bewährten Tradition, drastische Wendungen mit schwarzem Humor und treffenden Sprichwörtern aufzulockern, um den Lesenden eine leichtere Erträglichkeit der Lektüre zu ermöglichen.

    Stammzellen ist eine Liebesgeschichte: Eine große zwischen Mensch und Natur, eine größere zwischen Eltern und Kind, eine der größten zwischen zwei Menschen:

    „Elio greift um sie herum und kippt sie wieder auf die Seite, ganz nah an sich heran, ihre Brustwarzen sind noch steif, sie berühren die Haare auf seinem Körper, er rückt noch näher, legt die Stirn gegen ihre, atmet so tief ein, als wollte er auch noch die verbliebene Luft zwischen ihnen aufsaugen.“

    Die Protagonist:innen hadern mit sich, mit ihren Menschen um sich und mit der Zukunft – das Verbleiben und sich späte Entwickeln der Charaktere zeichnete sich bereits in ihrem vorherigen Roman „Fremde Federn“ ab. Lindermuth zeigt vor allem selbst viel Liebe: Für Geschichten, die auf dem Land verwurzelt sind; für ältere Menschen, die einen besonderen Platz in ihren Romanen bekommen.

    Lindermuth gelingt es in leisem Nature writing zu verbleiben, die Dringlichkeit der Klimakrise literarisch zu verarbeiten, Ängste zu schüren, wie es climate fiction nur kann und gleichzeitig eine Liebesgeschichte zu Papier zu bringen, die die Hoffnung vermittelt, die Möglichkeit einer tiefen, symbiotischen Verbindung zwischen Mensch und Natur wieder neu anzugehen.

    [Information] Alina Lindermuth: Stammzellen. Kremayr & Scheriau. 312 Seiten. Hardcover. 978-3-218-01446-5. 25 Euro.

    Danke an die Agentur Wolkenlos und Kremayr & Scheriau für das Rezensionsexemplar.

  • [Rezension] KALK | Dirk Bernemann

    [Rezension] KALK | Dirk Bernemann

    „Es stinkt, nach ihm, nach der Nacht, nach Zigaretten, ein bisschen auch nach Selbstmitleid. Da ist ein Schmerz, als wäre ein Fremdkörper im Kopf.“

    Kalk, Mitte 50, in einem Elektrofachhändel tätig, macht Urlaub. Er muss raus, aus seinem Alltag, aus seinem verschissenen Leben, durchatmen und Neues in den Kopf bekommen. Die Gespräche beim allwöchentlichen Tischtennis spielen mit Förster langweilen und nerven ihn, es ist für ihn alles immer die gleiche Leier, sei es sich wiederholende Verkaufsunterhaltungen, das Einkaufen gehen, die kaputte Beziehung zu Nina.

    Obwohl er in weit entfernte Länder reisen könnte, beschließt er dennoch den Urlaubsort seiner Kindheit aufzusuchen – ein verschlafenes Nest in den Niederlanden, Kijkduin. Dort gibt es bloß eine Strandpromenade und eine Einkaufspassage, genau so wenig Attraktionen, damit Kalk zu sich finden kann. Die Selbstfindung lässt jedoch auf sich warten – Kalk wird unfreiwillig zum Helden und rettet einen Jungen, der hinaus in Meer treibt. Aus Dankbarkeit muss er sich nun mit der Familie Berger herumschlagen, die ihn freundlicherweise zum Essen einlädt und die Frau noch freundlicher zu verstehen gibt, dass sie sexuelles Interesse an Kalk hat.

    „Mit f, meine Eltern waren einfache Leute.“

    „Würdest du mich ficken, Stefan Kalk mit f?“

    Bitte, denkt Kalk, sag nicht Stefan zu mir.

    „Natürlich würde ich das.“

    Die Situation entgleitet Kalk, er merkt, nur ein Lückenbüßer zu sein, egal ob es bei seinem Freund Förster ist, oder bei Melanie Berger, oder Nina. Kalk trinkt viel zu viel, wacht ständig mit Kopfweh auf und schlägt sich den Magen mit Frikandel voll. Er bemerkt, wie er seinem Vater immer ähnlicher wird und nun selbst in dem Stadium eines weißen, alten Mannes angelangt ist.

    Bernemann, selbst Exemplar der Generation X, denkt sich in dem Roman „Kalk“  in eine Boomer Generation hinein und bleibt doch in der Orientierungslosigkeit der eigenen Generation hängen. Eine typisch, deutsche Kindheit, die geprägt von Nordseeurlauben ist, gerne auch in den benachbarten Niederlanden, will neuen Sinn finden. Kalk dient dabei als Vorlage als Ausweglosigkeit eines missglückten Lebens. Spannend und neu ist das nicht, witzig schon:

    „Zeit vergeht, einfach so. Altern ist eine Nebenhandlung menschlicher Existenz. Das Unvermeidbare geschieht ohnehin. Die Enttäuschungen, die währenddessen passieren, intensivieren nur das Drama der Existenz.“

    Das eigene Drama liefert Bernemann frei Haus – wir alle könnten die Kalks einer ungewissen Zukunft sein, gefangen in einem Leben, das wir uns anders hätten erträumt, geschunden von kaputten Beziehungen, misanthropisch wegen all der schlechten Erlebnisse. Zeitweise hat man Mitleid mit dem gepeinigten Kalk, zeitweise steigt Zorn auf, wie schlecht die anderen Menschen in Kalks Leben wegkommen. Man kann Kalk nicht mögen und ihn doch verstehen.

    Vielleicht gelingt es dann noch, zu verstehen, warum man inhaltlich noch ein Buch einem alten, weißen Mann gewidmet hat. Wer der Welt mit Zynismus begegnet, wird es lieben. Alle anderen verlieren sich zumindest gerne in der Sprache, die so ungefiltert in die Welt stolpert.

    [Information] KALK. Dirk Bernemann. Edition W. 201 Seiten. ca. 25 Euro.

  • [Rezension] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie

    [Rezension] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie

    Der Mensch muss aufhören, ein Mensch zu sein. Will der Mensch die Urnorm entdecken, muss er zur Urnorm werden. Wer die Urnorm kennt, begreift den Anfang des Universums.

    Frustriert, beruflich unterfordert bestreitet der Rechtsanwalt Anatol Altmann, als Strafverteidiger sein Leben. Sein unausgesprochenes Talent: Pen & Paper – Rollenspiele, sein Guilty Pleasure das Spiel „das verrückte Labyrinth“.

    Kurzum bekommt er die Möglichkeit, sein langweiliges Leben gegen ein aufregendes Leben in einer Fantasiewelt zu tauschen und seine Leidenschaften miteinander zu verbinden: Statt nur das Recht durchzusetzen, darf er am HGH, also am Höchsten Gerichtshof, volle Gerechtigkeit bewirken. Das HGH, das sich als magisches Tribunal entpuppt und in dem jegliche Rechtsauslegung möglich wird, verlangt von Altmann nur eines: sein irdisches Leben.

    Der Strafverteidiger, der sich in einer heftigen Sinnkrise befindet, spielt nun um sein Leben: Doch was ist volle Gerechtigkeit? Kann man den Menschen an sich zu gutem Sein verdonnern? Kann das Recht für Gerechtigkeit sprechen? Ab wann tritt Gerechtigkeit für alle ein?

    Altmann verhandelt dies nicht nur Spielzug für Spielzug am HGH, das die weltlichen Gesetze außer Kraft gesetzt hat, sondern auch in seinem Privatleben: In einem unmöglichen Liebesdreieck zwischen Hannes, Timea und Anatol sind die Würfel noch nicht komplett gefallen:

    „Wieder schwebt das unmögliche Dreieck auf Altmann zu und er zurück durch das rotierende Tor, dorthin, von wo beziehungsweise von wann er gekommen war.“

    Die Gerichtsakten verhandelt Anatol Altmann wie Pen und Paper Spiele. Mit Würfel, Stärken und Schwächen des Charakters, Eigenschaften wird in 10 Aktenstücken Gerechtigkeit in verschiedenen Situationen verhandelt. Der Würfel bleibt auch hier das Zufallselement. Wie viele Pen und Paper Spiele ist das Ende für den Lesenden nicht klar.  Anatol Altmann wird zum Dungeon Master in seinen eigenen Dungeons, er wird Kämpfer, Zauberer, Paladin. Besonders D&D Freunde werden an der Spielstruktur des Buches sehr viel Freude beim Lesen haben. Die nächsten Spielzüge sind unklar, Altmann läuft 10 statt 20 Entwicklungsstufen durch.

    Mit juristischem Feingefühl nähert sich Markus Grundtner immer näher dem Begriff der Gerechtigkeit. Er begibt sich tief in die indische Philosophie hinein und entwirft als weiteren Protagonistin Nyaya, eine personifizierte Regel. Das Nyaya wird für gewöhnlich als Diskussionswissenschaft angesehen und so kommt es, dass Altmann sehr häufig mit Nyaya debattiert.  E.T.A. Hoffmann diskutiert ebenso munter mit Altmann über zweihundert Seiten über Gerechtigkeit, ist er doch nicht nur für seine literarische Arbeit bekannt, sondern auch als Jurist tätig gewesen.

    Die unsichtbare Brücke schlägt Grundtner von E.T.A Hoffmann zu Neil Gaiman, die Geschichte liest sich ab und an wie eine dunkle Sandman-Welt, lässt auch aufgrund seiner humorvollen Ausgestaltung eine Ähnlichkeit zu Douglas Adams Dirk Gently’s Holistic Detective Agency zu. Altmann unternimmt Zeitreisen in seine eigene Vergangenheit und wagt Blicke in eine Vielzahl an möglichen Zukunftsszenarien:

    Altmann wischt sich über sein Gesicht, auf seinen Fingerkuppen klebte mitternachtsblaue Tinte. Immer mehr fiel herab, füllt das Grab auf. Der Tintenspiegel stieg an, bis Altmann Tinte an seinen Lippen spürte, sie aus seinem Mund prustete und sie bald gar in der Nase hatte. Als er nicht mehr atmen konnte, zogen sich die Momente ins Endlose hin, bis plötzlich der Stein hinter ihm nachgab und Altmann, als würde er durch den Kanal hinweggespült, zurück an seinem Platz im Großen Sitzungssaal landete.

    Rettungswürfe braucht Grundtner für dieses Buch keine. Er gewinnt Lesende allein mit der spannenden Thematik dieses Buches und vielleicht darfs auch danach gern eine Runde D&D sein.

    [Information] Markus Grundtner: Der Fall der Fantasie. Keiper Verlag. 260 Seiten. ISBN: 978-3-903575-22-6. 25 Euro.