Kategorie: Rezensionen

  • [rezension] Kliteratur – Literatur über Regen, falsche Priester und Essig #6

    [rezension] Kliteratur – Literatur über Regen, falsche Priester und Essig #6

    Wer hat hier das Sagen? Oder was haben ein Strohmann und ein roter Hering mit der Debatte um die Meinungsfreiheit zu tun?

    Eine öffentliche Debatte über Meinungsfreiheit, ein Dossier über Diskursverschiebung, die Frage, ob Schwarze Autor*innen nur von schwarzen Übersetzer*innen übersetzt werden dürfen, ist das eine, dem sich das Team rund um die Zeitschrift Kliteratur widmet. Das andere ist Literatur, die sich dem menschlichen Innenleben, der Alleinsamkeit im Zweisamen, der Ehrlichkeit familiärer Einsichten annimmt und schlussendlich Ordnung schafft, den diese Zeitschrift will viel, aber eines nicht: Chaos in den Köpfen.

    Fein durchstrukturiert, säuberlich ausgewählt schichtet sich hier Essay auf Gedicht, Kurzgeschichte auf Kontextualisierung und Verortung. Das Heft ist eine Kunstausstellung, die man gerne durchwandert, ein paar Comics, wundervolle Illustrationen von Lina Ehrentraut und das schöne Layout begleiten nicht nur die Texte, sondern sind als eigenständige Kunst durchaus wahrzunehmen:

    Die Herausgeber Philipp-Bo Franke & Jonas Linnebank verbinden gekonnt Ernst mit Spaß, eine gute und wichtige Einordnung findet sich vor allem im Text über die Strohmann – Argumente rund um die Übersetzung von Amanda Gorman, indem das Problem prägnant um die Suche nach der korrekten Verortung zu finden ist und den Verlag in die Verantwortung zu nehmen versucht, die häufig nach ökonomischen Gesichtspunkten eine Auswahl trifft. Die Wichtigkeit von Ökonomietransparenz zeigt sich ebenso in der Berichterstattung rund um die Finanzen der eigenen Zeitschrift. Ein mutiger und wichtiger Schritt, damit die Zahlen in der Kulturarbeit nicht immer nach unten korrigiert werden, egal, ob es nun Produkt oder Arbeit der Kunstschaffenden sei, die es zu wertschätzen gilt.

    Besondere literarische Schätze werden hier ausgehoben, wie das Gedicht „nichts würde ich drum geben“ von Verena Schestak, die Unverhüllten Enthüllungen von Martina Lenz, lustig und scharfsinnig zugleich oder krass neue Schreibweisen, wie jene von Sönke Niebuhrs „Toxic Toys“:

    Prägung/with a taste of a poison paradise/I’m addicted to you/Don’t you know you are toxic“/Mein Stock ist ein Feenzauberstab, mein Stock ist eine Pumpgun.

    Wie sehr sich Kunst und Literatur verbinden lassen können, zeigt die Künstlerin Hatice Acikgoez, die mit dem Cut-Up Verfahren eine bissig böse Persiflage rund um das Thema Bewerbung auf das Papier knallt.

    Kliteratur ist eine Zeitschrift, die sich aus Kunst und Literatur zusammensetzt, Gesellschaft und Gegenwart diskutiert und analysiert, sowie Fragen zu stellen, deren Antwort nicht einfach ist. Zweimal jährlich erscheint sie, mit dem Ziel Geschichten, Comics, Dialoge, Briefe, Shorties, Gedichte zu zeigen, prinzipiell alles, wo Text drauf steht und Inhalt drin steht.

    Die Zeitschrift kann bei den Buchhändler*innen eures Vertrauens bestellt werden, oder online auf der Website der Kliteratur bzw. bei liberladen. Nähere Informationen zum Heft finden sich ebenso auf der Website.


    Danke an Anna-Pia von der Redaktion für das Rezensionsexemplar <3

  • [Rezension]:  Mama – Jessica Lind

    [Rezension]: Mama – Jessica Lind

    In manchen Nächten hört Amira ein Heulen. Dann ist es, als würde ihr das Herz aus der Brust springen. Aber die Hündin zeigt sich nicht. Sie weiß, was sie tun wird, wenn sie ihr begegnet. Deswegen nimmt sie das Gewehr mit, wohin sie auch geht. Sie kann sich erst sicher fühlen, wenn die Hündin tot ist.

    Mama – Jessica Lind / S. 160

    Jessica Lind hat mit Mama ein Buch in österreichischer Tradition geschrieben: Idylle gepaart mit dunklen Wäldern, die Idee einer traditionellen Kleinfamilie mit einem gewaltigen Riss versehen. Es ist eine österreichische Geschichte, die beginnt, wie alle guten Geschichten beginnen: Amira und Josef wollen ein Kind, genauer gesagt, Amira will ein Baby, Josef verneint nicht. Seine Angst, dass er wie sein Vater wird, lähmt ihn. Sie beschließen, einmal noch ohne Kind dort hinzufahren, wo Josef seinen Vater das letzte Mal gesehen hat: Ein Haus mitten im Wald, ohne Handyempfang, ein natürlicher Irrgarten zwischen hohen Bäumen. Amira hasst diese Umgebung, begegnet sie doch immer wieder einem Wanderer, der ihr nicht geheuer ist und eine gewaltbereite, rachsüchtige Hündin.

    Als Amira endlich schwanger ist und schließlich auch ein Mädchen namens Luise bekommt, nähern sie sich erneut dem gruseligen Zuhause, das eigentlich keines ist. Die Angst der Familie um das Mädchen frisst sie innerlich auf, und Amira verliert sich in Traum und Wahn. Man weiß nicht, ob das, was Amira erlebt, noch passieren wird, in der Vergangenheit liegt oder ein Hirngespinst ist.

    Die Protagonist*innen im Buch erscheinen zunächst klischeehaft, erweisen sich aber im Laufe des Buches alles andere das: Amira wird zur Kämpferin, Josef wird weich und nahbar. Zunächst als undurchdringliche Wand der Konvention zeigt das Buch schnell seine dunkle, bedrohliche Seite. Lind bestimmt die Nähe und Distanz zu den Dingen und Pflanzen, einen vermeintlichen Neuanfang, Todesangst genauso wie Verzweiflung. Der Wald und der Hund als Begleitthema erinnert an Marlen Haushofers „Wand“. Ein Blick genügt, man erkennt die starke namenlose Frauenfigur unter der Glasglocke, die von Luise verlassen wird. Die Zusammenarbeit mit Jessica Hausner lässt sich nicht leugnen, man erkennt in dem Buch Hausners Film „Hotel“ und kann auch diesbezüglich Parallelen erkennen.

    Optisch und haptisch präsentieren sich die Bücher in bester kremayrscher Manier, Ekke Wolf hat ein großartiges Design vorgelegt, das einen immer gerne zu Büchern von Kremayr & Scheriau greifen lässt:

    Sprachlich überzeugt das Buch auf allen Ebenen. Gelungene Dialoge, die den Text als Grundlage für ein Drehbuch erkennen lassen und bedrohliche Bilder entstehen lässt. Es ist definitiv ein Buch, das als Film funktionieren würde. Das Buch lässt böse Vorahnungen zu, kippt zwischen den Szenen so schnell, dass man sich als Leser*in verfolgt und verängstigt fühlt. Schnell lesende Personen werden in Versuchung geführt, ebenjene Szenen nochmals aufgrund der fehlenden optischen Begrenzung zu lesen. Es wäre auch als optisches Stilmittel zur Verdichtung des Romanes zu verstehen. Jessica Lind legt jedenfalls mit ihrem Debüt ein Buch vor, dass als mit Horror und Panik nicht geizt.

    [Informationen]

    Jessica Lind (2021): Mama. Kremayr & Scheriau. 192 Seiten. 20 €. ISBN: 978-3-218-01280-5

  • [Rezension]: Renate Silberer – Hotel Weitblick

    [Rezension]: Renate Silberer – Hotel Weitblick

    „Ich atme durch, stehe auf und gehe zum Fenster, öffne einen Flügel, strecke den Kopf hinaus ins Freie. Mein Blick wandert Richtung Himmel, ein Flugzeug, ein zweites, ich drehe den Kopf, wieder Flugzeuge. Der Himmel ist voll von ihnen. Eins, zwei, drei, weiterzählen macht keine Laune, ich frage mich, wie es wäre, wenn sie alle für einen Tag am Boden blieben.“

    Diese Frage stellen sich Lesende nicht nur in Bezug auf Flugzeuge, sondern eben- falls bei den Protagonist*innen, die nach und nach im Hotel Weitblick erscheinen: Vier Führungskräfte einer Werbeagentur namens Annette Stumpner, Franz Seidlinger, Helmut Kriegler und Horst Wienacher. Sie bestreiten ein Wochenende lang ein Assessmentseminar bei Dr. Marius Tankwart mit dem Ziel, noch ein Stück weiter die Karriereleiter zu besteigen. Von Selbstzweifeln geplagt, treibt der Consulter Tankwart die vier Teilnehmer*innen langsam in den Wahnsinn mit seinen berühmten Metho- den. Ein Kampf zwischen den künftigen Leadern bricht aus und eine friedliche Lösung kommt dementsprechend nicht mehr in Frage. Marius Tankwart muss Entscheidungen treffen, von denen sein Überleben abhängt, da sich der Druck der Teil- nehmenden nicht nur von außen mit Beziehungen und Statussymbolen niederschlägt, sondern vor allem von innen kommt. Im Verhalten der vier Angestellten der Werbeagentur wird schnell deutlich, wie sehr sie die Erziehungsmethoden der „Nazi- Pädagogin“ Johanna Haarer verinnerlicht haben.

    Man wird in eine unbekannte Welt gezogen, sieht den Endvierzigern bis Mittfünfzigern beim Scheitern zu. Die Sichtweise von Annette wird viel häufiger eingenommen und trotzdem wird sie von jenen nicht als potenzielle Führungskraft oder Gefahr wahrgenommen. Ein schmerzender und altbekannter Blick, den man in Gestalt einer Leser*in lieber zu vermeiden gewusst hätte, im Besonderen, wenn man dieser Generation nicht angehört. Technisch besticht der Roman aber durch eine beachtliche Klarheit, obwohl der Text zwischen fünf Ich-Perspektiven und Erzählperspektiven wechselt. Zusätzlich fungiert ein kleiner, schwarzer Hirsch als optische Zäsur.

    Hotel Weitblick liest sich als Tragödie sogenannter Leistungsträger*innen der Gesell- schaft. Es wird schnell klar, warum die gelernte Pädagogin Silberer dieses Buch geschrieben hat: Es ist ein Hinterfragen der selbsterfahrenen Erziehung und der damit verbundenen Werte. Beim Lesen stellen sich die Fragen: Will man so sein? Ein*e Leistungsträger*in, der/die auf völlige Transparenz pocht und über Leichen geht? Braucht man Vertrauen oder ist Kontrolle weitaus effizienter? Fremdscham und das Gefühl peinlich berührt zu sein, ist in diesem Buch allgegenwärtig. Schnell kommt man bei dem unpädagogisch erzählten Roman zu dem Schluss: Selbstoptimierung und Erfolg in Kombination ist gefährlich. Eine schmerzhafte Erkenntnis in einer leistungsorientierten Gesellschaft.

    [Informationen]

    Renate Silberer. Hotel Weitblick. Wien: Kremayr-Scheriau. 240 Seiten. E-Book 14,99 €, Hardcover 20 €

    Nähere Informationen: Kremayr-Scheriau.