Kategorie: Geschichten (Seite 2 von 3)

Hundertsechsundzwanzig Stunden.

Wenn du weg bist, sieht alles verwaschen aus. Die Wohnung, in der wir leben, der Himmel, wie ein Himmel von Manet, wie rote Frauen von Garache. Da ist diese, deine braune Tasche auf dem Bett, ein Teller voller Krümel, deine Schuhe. Da ist dein Durst letzter Nacht noch sichtbar, eine ausgetrunkene Wasserflasche, womöglich eine zweite unter dem Bett. Da ist das Fenster, das von letzter Nacht erzählt, als man betrunkene Jugendliche vorbeilaufen hörte und um vier Uhr morgens die Müllabfuhr. Da ist irgendwo über, unter, neben dir Musik aus den Neunzigern, die jeder kennt und niemand mehr hört. Halbschlaf, tiefer Schlaf, Viertelschlaf, auf der einen und der anderen Seiten, ein guter Gedanke, Albtraum, Sehnsucht nach Morgen. Es ist leer, wenn du gehst, und doch so voll, wenn du kommst. Zahnbürste, Seife, Zahnbürste, rotes Handtuch, irgendwo ein blaues, Löffel, Tisch, Tüte, Bett. Das Wetter meint es gut mit dir, und doch ist immer wieder Weltuntergang, wenn du gehst. Heute ist das Wetter blau, rot und lila, und manchmal ein bisschen weiß, von den Wolken, die mehr gesehen haben, als ich an manchen Tagen. Überall nichts, überall Welt, hier ein Universum und da ein Planet. Planetenbahn, Autobahn, Bahnhaltestelle.

Du magst Bahnhaltestellen, aber nur wenn sie ästhetisch sind. Alt und ästhetisch oder neu und ästhetisch, es spielt keine Rolle. Ästhetisch und echt. Aber das Echte lässt sich so schlecht finden, sagst du immer. Eingepfercht in einem Lebensgefühl, das so gar nicht passt. Wir sehen so ästhetisch aus, wenn wir in den Park gehen, auf den Kinderspielplatz, Schaukel an Schaukel mit Bier, keine Kinder, viele Kinder, wir sind Kinder. Hast du dich gefragt, was ich mich gefragt hab. Hast du was gesagt, und ja und ja und nein und nein und hundertmal ein Brummen und Okay.

Heute ist Postkartenwetter, eine Stadt, dahinter ein Feld. Bist du schon lange wach und ein Mhm. Deine Stimme zerläuft, sie ist anders als sonst, tiefer, sonorer, wie ein Haselnusskaffee aus dem Automaten. Ein Schulterzucken auf deine Frage, ein Blick in deine Richtung, ein Alles und ein Nichts, es bleibt beim Nichts. Ob sich heute schon wer gemeldet hat, zwei Anrufe, drei Nachrichten, auf deinem Telefon weiß ich nicht, schau selbst. Da ein Anruf, da eine Nachricht, verschlafene Augen, verwaschener Mund, ein Mundwinkel zieht sich schwach nach oben, der andere noch neutral, er entscheidet noch, was für ein Tag heute wird.

Heute ist Markt, ich gehe alleine, du schläfst. Lachsfarbene Häuser, gelbe Häuser, kaputte Fassaden, Fassade, Hülle, Oberfläche, Maske, mein Gesicht. Sonnenschein, verhalten, eine Sommersprosse, dann die nächste Sommersprosse, Fischmarkt, mehr Muscheln als Fische. Zuviel Geruch für den Morgen, da eine Bäckerei, Post, eierschalenfarbene Fassaden, kein Kaffee, du schläfst.

126 Stunden bis alles wieder anders ist. Heute lachst du viel, du lachst heute so als wärst du der Herbst. Herbst ist meine Lieblingsjahreszeit. Es ist nun dein Lachen. Du bist schön anzusehen, wenn du lachst, in dein Telefon hinein, eine Welt, du bist mit Kopfhörern verbunden. Manchmal bist du eine eigene Welt, umgedreht zur Wand, zwischen Buch und Musik oder Fernsehen. In 119 Stunden wirst du schlafen gehen, von einer Welt träumen, die du zuvor im Kino gesehen hast. Schnelle Welt, gute Welt.

Ob 126 Stunden genug sind, habe ich mich fragen hören, in den Innenhof hinein. Ob du dann bei mir bleibst, trotz allem, habe ich mich schweigen hören. Innenhof, rote Hängematte, zwei Kammern, frische Wäsche, schlechte Musik über den anderen Innenhof, stöhnende Frau von Osten, Schatten, Holzbank, Fragen.

Ich habe dir nie erzählen können, wie das ist, wenn du gehst. Da ist dein Ladekabel, und es ist das, woran ich mich klammere. Dass du da bleibst, weil dein Ladekabel da ist und deine Bücher und du gehst nicht ohne deine Bücher. Der Raum riecht nach dir, er riecht nach deinen Hoffnungen, deinen ungesagten Gefühlsregungen. Ich will dir etwas hinterlassen. Etwas, dass du hast, wenn ich gehe. Ein Foto. Auf deiner Kamera. Ich fotografiere mich. Im Spiegel. Ernst. Angestrengt. Du sagst ich schaue angestrengt, ich sage, du siehst müde aus. Wir sind müde und angestrengt. Müde des Lebens, angestrengt vom gegenseitigem Ablösen. Du fehlst.

Ich bin zurück und das Wetter ist anderswo prächtig habe ich dich sagen hören. Ich bin noch da will ich mich sagen hören. Dem Drang widerstehen, wegzulaufen, wir besteigen Berge. Im Garten hier ist es schön, sagst du mir und du willst auch ein Haus mit Garten und malen und existieren. Ich will auch ein Haus mit Garten, aber lieber eine Altbauwohnung mit Balkon, wir verlaufen konträr.

Bist du noch wach, bist du noch da, schweige ich dir im Schlaf entgegen. Im Mondlicht das angekettete Fahrrad bewundern, die ganze Woche stand es da. Du hast es auch bemerkt. Ich liege alleine, du bist nicht da, du bist nicht wach. Du bist fern, weiter als sonst. Ich höre dich reden und träumen, die Welt dort ist soviel schöner als hier. Ich werde dir nicht fehlen.

Bildnachweis.

Bist du noch bei mir
oder fackelst du andere an
mit deinem Lächeln
magst du Bier
oder vom Leben kosten?
Bring lieber den Wein mit
und ich die Geschichten
mal den Mond an
oder die leeren Wände
braten wir uns Fische
bevor sie ostwärts gehen

Wirst du noch bei mir
oder rennst du lieber weg
mit deinen Augen
magst du glühen
oder lieber gleich verbrennen?
Ich bring mich mit
ich hab mich zu verschenken
Menschen, das sind alles Tonnen
für Gefühle, Angst und Bier
laufen wir einfach weg
es wird uns nichts geschehen

Liegst du noch bei mir
oder schläfst du lieber weg
mit deinen Träumen
magst du erzählen
oder lieber schreien?
Bringen wir Hoffnung mit
und bitte Geduld von den Eseln
was kann uns schon passieren
bloß Momente sind unendlich
nimm meine bloß meine Hand
dann werden wir was erleben

BILDQUELLE

Stell´ den Salzstreuer
über den Pefferstreuer
und umgekehrt
pflanz´doch Worte ein
oder Briefe
pack mir ein Wunder ein
und gib’s mir mit auf die Reise
verbau mir alles
mit Sicherheiten
und links und rechts
zählen wir Leberflecke
zeigen Narben
schmieren sie als hässliche Bilder
an die Wand
nimm einen Bleistift
streich doch die Ängste durch
aus deinem Leben
greif ich mir die Gedichte
und die Ungewissheiten
doppelter Wortwert
bei Herzverzehrung
Planbruchstellen
eingeschlossen
am Leben drehen
wie am Lautsprecherknopf
was fragst du mich
ob wir Lieder oder Liebe
hören.

BILDQUELLE

Orangenblüten oder: Eine Geschichte übers Altern.

Ich schreibe dir. Das tue ich, weil ich gerade auf dich warte. Ich schreibe dir. Das tue ich, weil ich weiß, dass du das lesen könntest oder auch nicht, wenn dieses Blatt Papier wie des öfteren zerknüllt in der Tasche landet. Es ist schön hier, ich mag die Landschaft, es war gut, dass wir weggefahren sind, weg von dem Alltagsgrau, dass uns immer und immer wieder einholte und dass uns schlussendlich hier her gebracht hatte. Mein Blick wandert umher und ständig entdecke ich Neues, Wundervolles, das mich ins Staunen geraten lässt und diese großartige Faszination ausübt, dass man diese Kribbeln spürt, als hätte man sich soeben neu verliebt. Hast du die in Kalk getünchten Häuser gesehen? Es brennt in den Augen, die Häuser sind so strahlend weiß, doch ich mag es, es ist besser als das Alltagsgrau.

Das Blau sticht mir ins Auge, mein ganzes Leben hatte ich noch nie so blaues Meer gesehen, obwohl ich schon so oft am Meer war, und es jetzt wohl zwei Dutzend Reisen ans Meer gewesen sein mögen. Ich habe das leider mit dem Alter vergessen. An der Küste ist es so wunderbar türkis und es wird so kräftig dunkelblau, je näher man in den Horizont blickt. Es fällt mir schwer, die Schiffe draußen am Meer zu entdecken, doch die Segler im Hafen scheinen glücklich zu sein, so wie wir damals, als wir unseren ersten Segelurlaub gemacht hatten. Es riecht hier so wunderbar nach Meer! Ich liebe diesen Duft so sehr. Das Salz in der Nase sticht etwas und mir fällt wieder ein, dass du immer nach Meer gerochen hast. Ich kenne dich schon so lange, deine Haare rochen immer nach Meer, wenn wir langsam in unsere Träume versunken waren. Ich habe dann immer die Wellen gehört, die manchmal sanft, manchmal aufbrausend ihren Besuch auf dem Strand abstatteten und alsbald wieder ihre Heimkehr verkündeten. Überall hatten wir Bilder vom Meer an die Wand gehängt, manchmal fanden wir das Leben so großartig, wir schrieben uns gegenseitig Briefe und verschickten sie als Flaschenpost. Wir hatten das Meer, das Meer war die Freiheit, das Vermissen, der Ort unserer Hoffnung. So oft hatten wir das Meer vermisst, die Bilder stimmten uns traurig, sobald wir nicht bei ihm sein konnten. Sobald wir es nicht mehr ausgehalten haben, hatten wir unsere Koffer gepackt und wir zogen los. Einen gepackten Koffer hatten wir immer gepackt, immer bereit die Welt zu erkunden. Mittlerweile haben wir einen Koffer voll von Fotografien, immer bereit die Welt der Erinnerungen zu erkunden. Unsere Erinnerungen machten bereits einen Großteil unseres Lebens aus, uns ist ungewiss, wie viele Erinnerungen wir noch in diesen verstaubten Koffer packen können, ich hoffe doch, es werden noch ein paar.

Ich hatte vorhin meine Augen geschlossen, weil es so wunderbar hier riecht. Die Orangenblüten haben ausgetrieben, durch die ganze Stadt zieht ein sanfter Orangenduft von den Blüten, die Menschen scheinen soviel sanfter deswegen. Ich spüre gerade, wie die Sonne auf meiner Haut tanzt. Die kleinen fast durchsichtigen Härchen im Nacken sträuben sich, ein sanfter Westwind weht darüber, mir ist nicht kalt, das erste Mal in diesem Jahr.Es fällt mir in diesem Augenblick ein, dass der Westwind Zephyr genannt wird, ich mag das Wort sehr, weißt du? Vor Jahren haben wir damals ein Freiluftkonzert besucht, wir hörten Vivaldis Le quattro stagioni, im ersten Satz von L’Estate war dieses Wort aufgetaucht, ein Zephyr, der vom Nordwind Boréas durcheinander gewirbelt wurde, ein Gewitter, dass darauf hin im Presto Teil entsteht. Die Winde wehten immer, manchmal waren sie wie einer dieser ersten Frühlingswinde, manchmal tobend wie jene Winde, die Gewitter brachten, aber wir lernten mit den Winden zu leben, bist du nicht der Ansicht?

Ach, wie großartig, ich liebe diesen Orangeblütenduft! Ich würde ihn so gerne mit nach Hause nehmen, weißt du? In unser Haus würde so ein Duft ganz gut passen. Wir haben doch ohnehin Erinnerungen darin aufgenommen, dieser Duft würde gewiss nicht stören. Auf dem Treppenaufgang haben wir die ganzen Postkarten an die Wand geklebt, die wir uns gegenseitig immer schickten, als wir alleine auf Reisen waren. Im Wohnzimmer steht unsere Truhe, wo wir allerlei Erinnerungen aufbewahren. Du hattest damals damit angefangen, aus jedem Land ein Buch in der Landessprache mitzunehmen, auch wenn du es nicht lesen konntest, es war dir wichtig gewesen, etwas zu haben, was dich etwas an die verstrichene Zeit erinnert. Dafür achte ich dich sehr, ich habe dich immer geachtet, auch wenn uns das Alltagsgrau manchmal wie eine dicke, staubige Steppdecke eingehüllt hatte. Ich hatte in die Truhe allerlei Polaroid Fotografien, alte Dias, Bleistifte und das Buch mit den getrocknete Blumen hinein getan. Aus jedem Land habe ich eine Blume mitgenommen, sie waren haltbar gemacht worden, und doch so zerbrechlich, wie die Erinnerungen, die wir an diese Reisen hatte, aber langsam vergessen würden. Ich hätte wohl mindestens schon die Hälfte vergessen, würde ich dich nicht haben, wir tragen unsere Erinnerungen gemeinsam und erzählen sie uns an den verregneten Nachmittagen, wenn wir bei Tee zusammensitzen.

Hier ist alles so voll von diesem wunderbaren Leben, hier stört mich der Lärm nicht, es ist angenehmer Lärm. Menschen führen Konversationen in einer Sprache, die ich nicht verstehe, aber es ist mir egal, weil ich weiß, dass du bald kommen wirst, und wir uns dann über deinen kleinen Ausflug unterhalten werden. Es tut gut, dass so viele Menschen die Stadt beleben, ich fühle mich so erfrischt. Schon lange habe ich mich nicht so jung gefühlt. Vielen Dank dafür, dass du mich einfach entführt hast und ich nun da sitzen darf. Mein Kaffee duftet gut, er ist frisch gemahlen, er kühlt langsam aus und bald werde ich ihn trinken können. Meine Vorliebe für Kaffee hast du nie ganz verstanden, du hattest Angst, dass ich bald sterben würde, würde ich weiterhin soviel Kaffee trinke. Dir zuliebe trinke ich jetzt weniger Kaffee, aber ich muss dir gestehen, heimlich, wenn du nicht anwesend bist, trinke ich dann doch manchmal etwas mehr. Vor dir würde ich das jedoch nicht zugeben, ich will nicht, dass du dir meinetwegen Sorgen machst. Ich habe vergessen, dir zu sagen: Die nette Frau von gestern Abend hat mir gerade Marmelade vorbeigebracht und bald werde ich sie verkostet, aber ich möchte damit auf dich warten. Du bist schon so lange weg, ich kann es nicht erwarten, bist du wieder kommst.

Du hast mir einen Bildband dagelassen, damit ich mich nicht langweile. Es sind kunstvolle Bilder darin enthalten, die besten von Gauguin, Cézanne, Seurat und Toulouse-Lautrec, manchmal vereinzelt Bilder von Sérusier und Vuillard. Mit Bleistift hast du deine Lieblingsbilder am Rand vorsichtig gekennzeichnet, so wie Edouard Vuillards La liseuse von 1910. Du magst die alte Frau, die ein kleines Büchlein gerade liest, das Bild wirkt so ruhig und angenehm. Ganz oft hast du dir auch das Bild Fleuve sous les arbres, Martinique von Gauguin angesehen, die Seite hat bereits einen Riss am oberen Ende bekommen. Dein Leben war immer voll von Bildern und Notizen, von Gedanken und Worten, die andere gesagt hatten. Vorhin habe ich gelesen, dass Renoir diese wundertolle Umgebung als seine Wahlheimat deklariert hatte, wir müssen uns das aufschreiben, damit wir zuhause etwas erzählen können. Bei meinem Spaziergang vorhin habe ich auch Postkarten mit Motiven von Henri Matisse entdeckt, wir sollten vor unserer Abreise doch das Musee Matisse de Nice mit unserer Anwesenheit beehren, das wäre großartig, meinst du nicht?

Manchmal wünschte ich, ich wäre noch so albern, wie die Jugend, die ich gerade beobachte, wie sie tatsächlich schwimmen geht, obwohl das Wasser gerade mal 16 Grad aufweisen kann. Was waren wir manchmal albern! Gut, dass wir das Leben nie so ernst genommen haben, lange hätten wir es sonst nicht ausgehalten. Die guten Witze haben wir uns gemerkt, die schlechten Scherze, die uns das Leben gespielt hat, haben wir unter den Teppich gekehrt, der in unserem Wohnzimmer liegt. Gertrude Arndt wäre wohl nicht sonderlich erheitert, wenn sie wüsste, dass schlechte Scherze jetzt da beheimatet sind. Sie kann von Glück reden, dass das ein Teppich ist, der nur dem von Gropius´ Direktion gleicht.

Gerade bin ich noch in Versuchung, erneut eine Tasse Kaffee zu ordern, aber ich habe das Gefühl, dass du bald kommst, also warte ich auf dich. Ich warte so sehr auf dich, und du fehlst mir, sobald ich dich nicht mehr sehe. Das war schon immer so, seit ich dich kenne. Mit dir habe ich das Warten gelernt. So oft habe ich dich auf gewartet, deine Reisen waren oft ungewiss, und ich habe warten müssen, ob es mir gepasst hatte oder nicht, aber mein Magen hat sich immer zusammengezogen, so voller Freude war ich, wenn du wieder gekommen bist. Du hast mir nie gesagt, wie es dir mit dem Warten erging, bis heute lächelst du verschmilzt, wenn ich dich Dinge frage, die du mir nie sagen würdest. Aber du musst das Warten auch gemocht haben, sonst wären nie so viele Jahre ins Land gezogen, das Warten war für dich wohl eine leichtere Übung als dies für mich immer war. Es ist wie heute, als ich dich gerade am Straßenanfang erkennen kann, du hast frisches Brot mitgebracht und eine Tasche, die voll mit neuen Büchern gefüllt ist. Dein Gang ist nicht mehr so stolz, aber stattlich schreitest du deines Weges, charmant lächelst du und machst Menschen auf deinem Weg Komplimente. Du lachst gelassen in dich hinein, du hast wohl ein gutes Erlebnis gehabt, dass du mir alsbald erzählen wirst. Ich freue mich so darauf! Dein Buch habe ich zugeschlagen, ich sehe dir lieber dabei zu, wie du lachend auf mich zukommst, du siehst noch immer so gut aus, du bist durch deine Falten immer nur interessanter für mich geworden. Nicht einmal in den vielen Jahren, kam mir in den Sinn, jemand anderen so zu bewundern und gern anzusehen wie dich. Auch darob hast oft geschwiegen, aber dein Leben lang hast du mich dabei beobachtet, wie ich meine langen Haare kämme. Verstohlen aus den Augenwinkeln habe ich dich betrachtet, du warst felsenfest der Überzeugung, ich würde deine Beobachtungen nicht mitbekommen. Was für ein Irrtum deinerseits! Auch ich muss meine Mundwinkel leicht nach oben ziehen, ich liebe es, dich anzulächeln. Mein Warten hat wohl jetzt ein Ende, weil du bald da sein wirst. Machs gut! Wir sehen uns gleich.

Rucksack und Bahnhof.

Wir sitzen hier, an jenem Bahnhof, der unser Anfang war. Du warst damals gekommen und ich habe dich abgeholt. Dir kam kein Satz über die Lippen, du hast mich nur groß angesehen. Heute siehst du mich genauso groß an und sagst nicht. Wir sitzen hier, auf dieser Bank und die Kälte ist spürbar und lässt mich mindestens genauso erzittern, wie die Gedanken, die in meinem Kopf herumkreisen. Du sagst nichts. Du beißt nur auf deinen Lippen herum, damit man das Beben nicht sieht, das deine Lippen sonst von sich geben würden. Ich kann dich nicht ansehen, nicht mehr und starre deswegen auf meine Schuhe, die sich genauso mitgenommen fühlen wie ich. Dein Kopf bewegt sich langsam und du blickst mich an, mit diesem Blick, den du immer hast, wenn du etwas bereust. Ich brauche dich nicht ansehen, weil ich weiß, wie deine Augen an mir hängenbleiben. Deine Augen werden leer sein, und ich würde mir die Schuld geben, weil ich sie nie füllen konnte mit dieser Begeisterung, die du so selten zeigst. Ich weiß auch, dass deine Augen glasig sind, weil du das Weinen unterdrückst, so wie du alles unterdrückst, weil du Angst hast, dass man es gegen dich verwenden könnte. Wir sitzen hier und wir haben uns nichts zu sagen. Wir haben so viele Geschichten erfunden, wir haben uns das Blaue vom Himmel erzählt und nun sind uns die Worte ausgegangen. Die Lügen haben wir uns jedes Mal aufs Neue aufgetischt und wir haben sie satt. Deine Hände hast du in der Jacke zu Fäusten geballt, weil du so wütend auf das Leben bist. Dein Blick wandert zu deinen Füßen, die nervös hin und her wippen. Meine Pupillen weiten sich, als ich sehe, dass dir nun langsam die Tränen an den Wangen hinunterrollen. Ich muss mich räuspern.

Meine Stimmbänder wollen sich bewegen, doch mehr als verächtliches Schnauben schaffe ich in diesem Moment nicht. Ich möchte dich fragen, warum es soviel gibt, dass ich nicht verstehe kann und ich weiß, dass du es mir nicht beantworten kannst. Wir haben uns durch den Parcour der Unverständlichkeiten immer halbwegs gut durchgeschlängelt, nur den Drahtseilakt haben wir nie geschafft. Wir waren beide nicht sonderlich gute Seiltänzer gewesen, wir haben uns lieber einen Strick daraus gedreht.

„Ich hab´ meinen Regenschirm zuhause vergessen“, gebe ich heiser von mir.

Wir sitzen hier, während der Zug sich langsam dem Bahnsteig nähert. Meinen Rucksack voller Erinnerungen habe ich mir hastig auf den Rücken gehievt, dem ganzen Ballast, den ich mir aufgeladen habe, habe ich reingestopft, aber ich wollte nichts bei dir lassen, weil ich Angst habe, dass ich dich vergesse. Viel zu schnell springe ich auf, weil ich weg will, nicht weg von dir. Du erhebst dich langsam und starrst auf den Zug. Ich weiß, dass du nicht willst, dass ich einsteige. Mit dem Rucksack auf dem Rücken bewege ich mich steif zu dir und gebe dir einen Kuss auf die Stirn, weil das alles ist, was ich dir hier lassen kann.

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