Monat: Oktober 2022

[rezension] Monsieur Orient-Express | Gerhard J. Rekel

Der Orient-Express ist der bekannteste Zug der Welt, dank der zahlreichen Filme und der Literatur, die sich des Zuges immer wieder als Motiv bedienten. Weniger bekannt hingegen ist die Geschichte des Visionärs Georges Nagelmacker, der eine Vision hatte: Europa zu verbinden mit einem Zug, der vom Okzident in den Orient fährt. Dabei sollten den Gästen alles aufgewartet werden, was möglich ist: komfortables Reisen, Schlafwägen, Restaurants an Boards, noble Hotels an den Haltestellen. Zeit seines Lebens schuf er ein Netzwerk von über 180 Nachtzugverbindungen, die bis in die Gegenwart hineinwirken.

Georges Nagelmacker erscheint in dieser rasend schnell zu lesenden Biografie als Antiheld seiner eigenen Geschichte zu sein: Vom Vater für seine Lebensentscheidungen missliebig beäugt, wird er von diesem nach Amerika geschickt und lernt dort seine Lebensliebe kennen: Züge, die die Westküste Amerikas mit der Ostküste verbinden. Pullman-Züge. Nagelmacker gedenkt solche Waggons auch für Europa zu bauen. Fündig wird er dabei unter anderem bei einer Werkstatt in Wien Simmering, die ihm diese edlen Waggons herstellen. Trotz seiner dauerhaften hohen Verschuldung kämpft er für seine Vision, sein lebenslanger Gefährte Napoléon Schroeder unterstützt ihn dabei. Die Gründung der Compagnie Internationale des Wagons-Lits (CIWL) erweist sich als historischer Meilenstein für die Zugfahrt in Europa. Nagelmackers Leben, welches auch mit privaten Turbulenzen bestens bekannt ist, verzeichnet aber am 4. Oktober 1883 den größten Wendepunkt in der europäischen Zuggeschichte: Die erste Fahrt mit dem Orient-Express ist möglich.

Das größte Wunder erlebt man wohl mit der ersten Fahrt: Gäste fürchten sich vor dem Osten und steigen am Wiener Westbahnhof aus, Könige wollen die Gäste des Orient-Express begrüßen, ein Teil der Strecke muss zu Fuß und auf dem Schiff zurückgelegt werden. Der Orient- Express fährt später durchgängig und in etwa 68 Stunden, recherchiert man, so benötigt man für dieselbe Zugstrecke heutzutage 57 Stunden und als Leser:in kommt man zum Schluss: Georges Nagelmackers war nicht nur Visionär, sondern ein Zauberer seiner Zeit.

Eindrucksvoll ist vor allem die sprachliche Ausgestaltung des Buches. Gerhard J. Rekel verbirgt seine Schreibherkunft nicht – als Drehbuchautor für den Tatort und für viele Wissenschaftsdokus für Arte und den ZDF – baut er Kapitel für Kapitel eine Kulisse auf, die Lesende sofort in die Zeit zurückkippen lässt:

„Möwen umkreisten das Schiff, ihre grellen Schreie mischten sich mit dem Meeresrauschen. Am Horizont gab die Sonne ein orange-rotes Farbenspiel, bis sie verschwand. Der junge Mann stand an der Reling, dreiundzwanzig Jahre alt, wacher Blick, lässig gekleidet in Wollmantel und Schal. Als beim Auslaufen des Dampfers das Horn ertönte, mag Georges wie viele andere Reisende in melancholische Gedanken versunken gewesen sein.“

Neben der Begeisterung für den Orient-Express, die Rekel schriftlich unabdingbar erweckt, finden sich auch historische Grafiken und Landkarten in dem Buch. Man kommt nicht umhin, das Streckennetz mit dem Finger abzufahren und sich in entfernte Orte zu träumen und wie es wäre mit dem Orient-Express zu fahren. Zumindest einen kleinen Luxus hätte man sich während des Lebens gerne gegönnt: So vermisst man etwa ein Lesebändchen oder eine historische Fahrkarte als Lesezeichen, wenn man schon nicht ein viergängiges Abendmenü, eine Kabine mit Rosshaarmatratzen oder rote Teppiche am Bahnsteig hat.

Eines bleibt den Lesenden nach ihrer Reise mit dem europäischen Eisenbahnpionier im Orient-Express: Die Lebensgeschichte von Georges Nagelmackers beeindruckt durch ihre Vision, Zuversicht und Hoffnung und wahrscheinlich noch mehr über all die technischen Erfindungen, die bis in die Gegenwart nachwirken.

[Information] Gerhard J. Rekel: Monsieur Orient-Express. Wie es Georges Nagelmacker gelang, Welten zu verbinden.  Kremayr & Scheriau. Hardcover, 288 Seiten, 978-3-218-01305-5, 25 Euro.

Ein herzliches Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

[litrobona|rezension] Spiel der Heugabeln: Marcus Fischers Die Rotte

REZENSION Katharina Peham, 21. Oktober 2022 Im Halbschlaf sind die Gedanken gekommen. Gedrückt haben die vorn in der Stirn. Und in der Brust. Immer härter sind sie geworden, jeder Gedanke ein Brocken, bis der Kopf selber zum Brocken geworden ist und sie aus dem Steinernen nicht mehr herauskommen ist.  Alles ist düster und dunkel in […]

Spiel der Heugabeln: Marcus Fischers Die Rotte — litrobona

[rezension] Um mich herum Geschichten | Luna Al-Mousli

Nach einem dieser Sommer fing alles an. Präsidenten stürzten in Nachbarländer. Die Straße war belebt mit leblosen Menschen.

Geschichten begleiten einen oft das ganze Leben lang, so unscheinbar sie sein mögen. Gespräche, Begebenheiten, die sich tief festsetzen in der Erinnerung und Jahre später zum Vorschein kommen. Besonders scheint dies für Geschichten aus zerrütteten Staaten der Fall zu sein. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen, die Suche nach einer neuen Identität, wenn die alte nicht mehr möglich ist. Erinnerungsfetzen erzählen von Erlebnissen unmittelbar und sanft. In „Um mich herum Geschichten“ sind es unauffällige Gegenstände, die jeweils die Geschichte einer Großfamilie in Damaskus erzählt. Luna Al-Mousli erzählt das Leben ihrer Tanten, Onkel, Großeltern in einem Staat, der seit 2011 gebeutelt von Krieg ist. Es ist die Promotionsurkunde, die verstaubt eine traurige Geschichte erzählt, obwohl sie als wichtigstes Lebensereignis gehandelt wird. Es ist die Oud, eine arabische Laute, die das Leben eines Mannes begleitet, dessen Leben als Musiker, Vater und Partner auseinanderbricht, weil der Alkoholismus nicht zu kontrollieren ist:

Er verlor sich in all den Möglichkeiten. In der Wohnung wurde es häufiger laut oder unheimlich still. Frustriert standen er und seine Liebe da. Sie rangen nach Luft und den richtigen Worten. In keiner Sprache wurden sie fündig, obwohl sie sich eigentlich viel zu sagen hatten.

Es ist ebenso die Geschichte eines Anzugs, der für die Abschlussfeier des Sohnes gekauft wurde, bevor der Krieg ausbricht.  Es ist die Geschichte eines Schlüssels, der seinem Zweck nicht nachkommen kann, weil Flucht notwendig wird. So unbewegt und unscheinbar die Gegenstände sind, die die Geschichte dieser Großfamilie erzählen, so bewegt und ergreifend konzipiert Al-Mousli traurige Elemente wie den Tod:

Der Großvater war gestorben. Egal wie sonnig es in den nächsten Tagen auch wurde, das Lichterspiel des Kristallleuchters reichte nicht aus, um die Trauer aus dem Wohnzimmer zu verjagen.

Wie können Autor:Innen über den Krieg schreiben, ohne dass der Krieg auf jeder Seite sitzt? Al-Mousli machts vor. Sie schreibt anhand der Großfamilie über die Sorgen und Ängste der einzelnen Familienmitglieder. Menschen sterben, werden Gewalt ausgesetzt und finden einander wieder. Behutsam führt die Autorin die Lesenden zu den wichtigen Fragen im Leben: Was wollen wir sein? Wer können wir sein? Oder ganz poetisch:

Welche Luft wollten sie einmal einatmen, wenn der letzte Atemzug getan war?

Wenngleich es schwer für Lesende sein dürfte, das 150 Seiten dünne Buch als Roman wahrzunehmen, oder die arabischen Schriftzeichen zu verstehen, verbreitet „Um mich herum Geschichten“ eine Familiengeschichte zwischen Melancholie und purer Lebensfreude. Der in der Edition W erschienene Band, der sich mehr als Kurzgeschichtenband zu verstehen gibt, wird in seiner nahbaren Erzählform dadurch um nichts geschmälert. Die in Wien lebende Autorin Luna Al-Mousli webt zudem geschickt im Band einen familiären Wien-Bezug ein. Ein Buch voller Heimatlieben – der alten und der neuen.

[Information]: Um mich herum Geschichten. Luna Al-Mousli. Westend Verlag. 150 Seiten. ISBN 9783949671005. 16 Euro.

Ein Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.

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