Ein Raum

Ein Raum ist nicht nur ein Raum.
Ein Raum ist im Haus,
ein Raum hat Beton, hat Wände, hat Weckrufe, ein Raum hat Gegenwart, Träume und Listen. Ein Raum hat Insassen. Die Insassen machen das Wetter im Raum.

Ein Raum ist unvermeidlich.

Der Roman „Den Körper schreiben die Gedichte“ von Julia D. Krammer beschäftigt sich mit der Frage, wie kann jemand, der keinen Raum einnehmen möchte, soviel Raum einnehmen, dass daraus ein ganzer Roman mit 213 Seiten folgt? Krammers Roman erzählt in Miniaturen, Rückblicken und Flashlights die Geschichte von Mona, die gerne unsichtbar wäre. Denn: Sie wird als Kind in eine Glaubensgemeinschaft gesteckt, die wie eine Kommune funktioniert. Sie wird von ihren Eltern getrennt, ihr Körper zum Allgemeingut erklärt, über den der PRIMKU Alfred Stern und auch alle anderen in der Kommune wann auch immer verfügen dürfen, so oft und häufig sie möchten. Mona, die nach dem Verschwinden Pauls, ihren einzigen Freund verliert, gelingt schlussendlich die Flucht. Die Versuche, sich und das Geschehene unsichtbar zu machen, gelingt ihr nicht. Sie wird zwangseingewiesen und muss sich ihrer Vergangenheit stellen, und auf die Suche nach einem Raum machen, der ihr gehört.

[…] doch der PRIMUS konnte sich nicht zurückhalten in SEINER Zuneigung für das Mädchen, das mittlerweile vier Jahre alt war; aufgrund der Novizinnen-Ausbildung konnte ER nun viele Ausflüge mit ihr unternehmen und sie verwöhnen, natürlich alles im Sinne ihrer persönlichen Entfaltung; schon früh führte ER Mona in die Sexualität ein, doch immer beschwor ER sie zu schweigen, drohte, sie verlöre die Aussicht auf das Königreich, und wer wäre sie denn allein auf der Welt, wovon sollte sie leben, ohne die PRIMKRU wäre sie ein Nichts, hätte sie nichts, nichts würde aus ihr werden.

Der Raum, den das Thema Kindesmissbrauch einnimmt, ist als Leser:in manchmal schwer auszuhalten. Man wird böse und ist fassungslos, wie ungeschönt dieser Missbrauch daherkommt. Krammer spielt mit den Träumen, Ängsten und Wünschen auf so poetische Art und Weise, dass nicht klar ist, was sich im Kopf vom Mona abspielt und was tatsächlich passiert. Die Angst, dass das Mädchen, bzw. die junge Frau erneut von der Kommune aufgefunden werden könnte, schwingt ständig mit.

Optisch überzeugt das Buch vor allem im Inneren: Es sind Gedichte enthalten, die Kapitel tragen Namen. Es lässt auch hier viel Raum zum Denken und Aushalten übrig. Das Buch lässt auch den Lesenden Raum, den man für das Einatmen dieser Geschichte braucht: Es ist kein Roman, den man auf in einem Durchgang lesen wird. Man blättert zurück, liest Passagen nochmal und verortet sie neu. Man liest Szenen erneut, um wirklich zu verstehen, was man da gelesen hat. Die Sprache des Buches kommt dabei nie schwer und erdrückend daher, sie ist sogar das Gegenteil: Leicht, poetisch, wild. Wenn nötig, sanft und leise. Aber immer überzeugend:

Es ist wie ein Tanz unter Wasser, ein Tanz auf dem Meeresgrund, immer mit leichtem Delay, denn die Medikamente machen mich träge und verlangsamen jeden Schritt, lassen mich stolpern: über meine Gedanken, meine Träume, Sehnsüchte und Ängste. Gestern Abend war das Stolpern besonders schlimm, da lag die Unsicher- heit in meinem Bett und hielt mich kalt, hielt mich fest, gestern war die Unsicherheit größer als ich selbst.

[Information] Den Körper schreiben die Gedichte. Julia D. Krammer. Rohstoff. Matthes und Seitz. 213 Seiten. ISBN: 978-3-7518-7007-8. 12 Euro

Ich danke Julia D. Krammer dafür, dass ich die Druckfahne vorab erhalten habe und das Buch vor Erscheinungstermin lesen durfte.