Nach einem dieser Sommer fing alles an. Präsidenten stürzten in Nachbarländer. Die Straße war belebt mit leblosen Menschen.

Geschichten begleiten einen oft das ganze Leben lang, so unscheinbar sie sein mögen. Gespräche, Begebenheiten, die sich tief festsetzen in der Erinnerung und Jahre später zum Vorschein kommen. Besonders scheint dies für Geschichten aus zerrütteten Staaten der Fall zu sein. Hier bleibt kein Stein auf dem anderen, die Suche nach einer neuen Identität, wenn die alte nicht mehr möglich ist. Erinnerungsfetzen erzählen von Erlebnissen unmittelbar und sanft. In „Um mich herum Geschichten“ sind es unauffällige Gegenstände, die jeweils die Geschichte einer Großfamilie in Damaskus erzählt. Luna Al-Mousli erzählt das Leben ihrer Tanten, Onkel, Großeltern in einem Staat, der seit 2011 gebeutelt von Krieg ist. Es ist die Promotionsurkunde, die verstaubt eine traurige Geschichte erzählt, obwohl sie als wichtigstes Lebensereignis gehandelt wird. Es ist die Oud, eine arabische Laute, die das Leben eines Mannes begleitet, dessen Leben als Musiker, Vater und Partner auseinanderbricht, weil der Alkoholismus nicht zu kontrollieren ist:

Er verlor sich in all den Möglichkeiten. In der Wohnung wurde es häufiger laut oder unheimlich still. Frustriert standen er und seine Liebe da. Sie rangen nach Luft und den richtigen Worten. In keiner Sprache wurden sie fündig, obwohl sie sich eigentlich viel zu sagen hatten.

Es ist ebenso die Geschichte eines Anzugs, der für die Abschlussfeier des Sohnes gekauft wurde, bevor der Krieg ausbricht.  Es ist die Geschichte eines Schlüssels, der seinem Zweck nicht nachkommen kann, weil Flucht notwendig wird. So unbewegt und unscheinbar die Gegenstände sind, die die Geschichte dieser Großfamilie erzählen, so bewegt und ergreifend konzipiert Al-Mousli traurige Elemente wie den Tod:

Der Großvater war gestorben. Egal wie sonnig es in den nächsten Tagen auch wurde, das Lichterspiel des Kristallleuchters reichte nicht aus, um die Trauer aus dem Wohnzimmer zu verjagen.

Wie können Autor:Innen über den Krieg schreiben, ohne dass der Krieg auf jeder Seite sitzt? Al-Mousli machts vor. Sie schreibt anhand der Großfamilie über die Sorgen und Ängste der einzelnen Familienmitglieder. Menschen sterben, werden Gewalt ausgesetzt und finden einander wieder. Behutsam führt die Autorin die Lesenden zu den wichtigen Fragen im Leben: Was wollen wir sein? Wer können wir sein? Oder ganz poetisch:

Welche Luft wollten sie einmal einatmen, wenn der letzte Atemzug getan war?

Wenngleich es schwer für Lesende sein dürfte, das 150 Seiten dünne Buch als Roman wahrzunehmen, oder die arabischen Schriftzeichen zu verstehen, verbreitet „Um mich herum Geschichten“ eine Familiengeschichte zwischen Melancholie und purer Lebensfreude. Der in der Edition W erschienene Band, der sich mehr als Kurzgeschichtenband zu verstehen gibt, wird in seiner nahbaren Erzählform dadurch um nichts geschmälert. Die in Wien lebende Autorin Luna Al-Mousli webt zudem geschickt im Band einen familiären Wien-Bezug ein. Ein Buch voller Heimatlieben – der alten und der neuen.

[Information]: Um mich herum Geschichten. Luna Al-Mousli. Westend Verlag. 150 Seiten. ISBN 9783949671005. 16 Euro.

Ein Dankeschön an den Verlag für das Rezensionsexemplar.