Monat: Februar 2022

  • [rezension] AIBOHPHOBIA | Kurt Fleisch

    [rezension] AIBOHPHOBIA | Kurt Fleisch

    Mit Aibohphobia legt Kurt Fleisch, so das Pseudonym des Autors, einen Roman im Briefstreitgespräch vor, der sich mit der Frage nach der Wirklichkeit beschäftigt. Dr. H., anerkannter Psychiater hat einen äußerst interessanten Patienten namens S., der trotz mehrmaliger Einweisung und starker Medikation an Wahnvorstellungen leidet. S. entpuppt sich als ideales Forschungsobjekt für Dr. H., der den Ursprung aller Geisteskrankheiten (sic!) entdeckt haben will.

    Gekonnt gewitzt bewegt sich Fleisch zwischen Teilchenbeschleuniger und Zwangsmaschinen umher, baut Smart Bunker Automation, in der Alexa auf den Namen Trotzki hört, lässt Flucht ermöglichen und lässt dabei nie das Ziel aus den Augen, was denn nun Realität sei:

    Aber es ist eine andere Realität, die wirklich ist.

    Zwischen abgedruckten Rezepten für verschreibungspflichtige Medikation, wunderschönen, schwarz gestalteten Seiten mit Gehirnhälften zu je vier Kapiteln stößt man sich vielleicht an den veralteten Begrifflichkeiten wie geistige Störung, aber nie an der gelungenen Positionierung einer Metaebene im Text, der sich auch immer buchstäblich zeigt:

    Etwas verbringe ich meine Zeit seit dem gestrigen Tage durchgehend bis jetzt, sogar während des Schreibens dieses Briefes, vor meinem Schlafzimmerspiegel, in dem ich mich zu meinem Überraschen nicht mehr sehen kann. Ich bin einfach verschwunden.

    Die IT-Affinität des Autors zeigt sich am begeisterten Einfall sich selbst auflösender Programme, die in KERNEL PANIC: FATAL EXCEPTION enden und den Leser:innen unweigerlich ein memento mori der besonderen Art beschert: Was ist bleibt, wenn nichts mehr ist und wo befindet sich die Shell? Was ist nun mit der Hardware oder wie es Fleisch sagen würde:

    Maschinen und Gehirne, was naturgemäß ein- und dasselbe ist.

    Poetisch und dem Roman mehr Tempo verliehen, zwischen Diener, Reisen, Medikamentenbesorgungen rettet sich Fleisch aus der Misere mit einem Blick ins Universum:

    Ich sehe tausend Sterne, die nicht mehr existieren, die längst verglüht und vernichtet sind.

    Verschwinden und auftauchen, entfliehen und erscheinen lässt sich das Krankheitsbild einer kreativ angelegten Psychose erraten, die sich selbst in kräftige Bilder ein- und untermauert. Die intellektuell anspruchsvolle, zuweilen antiquierte Sprache macht nicht immer, aber meistens Spaß.

    Aibohphobia ist übrigens die Angst vor Palindromen, also Wörter, die von vorne oder von hinten gelesen dasselbe ergeben. Eine gedankliche Zwangszuordnung lässt dieser Roman allerdings nicht zu. Kreative Geister werden nicht davor zurückscheuen, den Versuch zu starten, das Buch auch auf der letzten Seite zu beginnen: zu groß war die Freude, diese kreative Prosa nur einmal zu lesen.

    [Information] Kurt Fleisch: AIBOHPHOBIA. Kremayr & Scheriau. 176 Seiten. ISBN:978-3-218-01310-9, 20 Euro.

  • [rezension] Langeweile // Isabella Feimer

    [rezension] Langeweile // Isabella Feimer

    Poetisch und überlegt, begibt sich Isabella Feimer auf die Suche nach der Langeweile. Ein gefürchtetes Unding, häufig gepaart mit Warten und Stille, passt es so gar nicht in eine Welt, die sich an Produktivität und Optimierung misst. Langeweile sucht sich im Dunkeln, wenn sie mit Wehmut und Isolation ein Gespann bildet und entdeckt sich im flirrenden Hell, wenn Mensch sich wonnig einer vorbeiziehenden Landschaft ergötzt.

    Zwischen Buchdeckeln in taubengraulila (fast schon „käferkörpergrau“) erliest Mensch sich eine Recherche, dass das Gute und Schlechte im „acedia“ sucht (= Nichtstunwollen), ebenso wie sehnsüchtige Langeweile, die darin gipfelt, dass Frauen klischeehaft schwermütig aus dem Fenster sehen.

    Die Autorin scheut die Auseinandersetzung mit der Langeweile nicht, sie setzt sich einem Selbstversuch nach einer Idee der Performancekünstlerin Marina Abramović aus. In Achtsamkeit übend, trennt sie zählend Reis von Linsen. Ein Versuch, zu erahnen, was das sein könnte, diese Langeweile, die wir zu wenig verspüren. Gelungen, wenn ein geschärfter Blick und eine komplette Koppelung zur Gegenwärtigkeit einzig übrigbleiben.

    Langeweile erweist sich als komplexes, schwieriges Thema, das die Autorin ebenso literarisch verarbeitet:

    BEFANGENHEIT UND EIN VERKÜMMERN NACH BEDEUTUNG UND NACH SINN, DAS SAGE ICH, EIN KÖRPER, DER SEINE MÄNGEL IST, FEDERLEICHT UND BLEISCHWER ZUGLEICH, UND EINE LANDSCHAFT, UNSICHER, OB SIE AUCH TATSÄCHLICH EINE LANDSCHAFT IST,

    WEIL
    EINSAM
    SCHATTENLOS KONTURENFERN
    WEIL
    „SICK WITH LONELINESS“ WEIL ALLES NICHTS IST UND ALL SEEMS LOST.

    Langeweile // Isabella Feimer S. 66

    Auch die Pandemie wird zum Thema gemacht, in der sich viele in das Selbst zurückgeworfen sahen und ein von Lockdown-bestimmtes Leben führen mussten. Gehäuft zitatgeladen und auffällig der Poesie verschrieben, nimmt das Buch lyrikbegeistertes Lesepublikum auf eine anregend philosophische Reise mit. Der Weg schlängelt sich unbeirrt zwischen Boreout Syndrom, in dem sich Langeweile gern mit Aggression paart, der Frage, ob Tiere der Langeweile mächtig seien und dem lustvollen, schmerzlichen Gefühl der Leere.

    Eine Frage wirft dieser Band unweigerlich auf:

    Kann man ein Buch über Langeweile schreiben, ohne dass es langweilig zu lesen wird?

    Die Antwort: Feimer kann. Songtexte von Iggy Pop und Lionel Richie fügen sich nahtlos an Zitate von Walter Benjamin, Martin Heidegger, Virginia Woolf oder Hannah Arendt und philosophisches Grundlagenwerk zum Thema. Langweilig wird die Lektüre jedenfalls nicht.

    [Information] Isabella Feimer: Langeweile. Kremayr & Scheriau. 112 Seiten. ISBN: 978-3-218-01317-8, 18 Euro.